Geist und Bewußtsein III

Rezensionen und Stimmen zu Damasios Buch:
"Ich fühle, also bin ich."

Zusammenstellung: Helmut Walther (Nürnberg)

Zunächst möchte ich an dieser Stelle auf die Rezension dieses Buches hinweisen, die Dr. Wolf Pohl, Konstanz, in der Mitgliederzeitschrift "Aufklärung und Kritik" der Gesellschaft für kritische Philosophie, Nürnberg, im Frühjahr 2001 veröffentlicht hat.
Gleichzeitig gilt Dr. Pohl mein Dank, der verschiedene der hier aufgeführten Texte zur Verfügung gestellt und sie zum Teil vom Englischen ins Deutsche übertragen hat.

Mit diesem Link gelangen Sie zu meinen Anmerkungen zum Buch zurück.



1. Douglas F. Watt in Journal of Consciousness Studies
2. Holger Jergius in der Nürnberger Zeitung
3. Auszug aus einem Interview Damasios mit der Süddeutschen Zeitung
4. Wissenschaftler- und Pressestimmen zum Buch


Journal of Consciousness Studies, 7, No. 3, 2000, pp. 72-84

Rezension (gekürzte Übersetzung Dr. Wolf Pohl, Konstanz)

Douglas F. Watt

(Director of Neuropsychology, Quincy Hospital, Quincy, MA 02169, USA.)

Antonio Damasio, The Feeling of What Happens: Body and Emotion in the Making of Consciousness (New York: Harcourt Brace, 1999).

Dies Buch ist ein Meilenstein, beinahe unabhängig davon, als wie genau sich Antonio Damasios weitreichende theoretische Formulierungen erweisen werden. Er ist der erste zuzugeben (im Buch selbst), dass sich die Dinge auf diesem Gebiet der Neurowissenschaft so schnell ändern, dass anscheinend nichts, was zu diesem Zeitpunkt auf dem Tisch liegt, als Doktrin oder als nicht möglichen größeren Änderungen unterworfen zu betrachten ist. Trotzdem vermute ich, dass viel von Damasios originellerer Terminologie – Begriffe wie "Proto-Selbst", "Kern-Selbst", "autobiographisches Selbst", "Kern-Bewußtsein" und "erweitertes Bewusstsein" – in manchen Kreisen schnell Teil des grundlegenden Lexikons der Bewusstseins-Neurowissenschaft werden wird – dank der Kraft seiner Ideen und des Umfangs origineller Gedanken in diesem Werk. Um den komplexen Gang seiner Argumente zu verstehen, muss man diese Begriffe (und ein paar mehr) sorgfältig definiert haben wie auch die von Damasio vermuteten neuralen Substrate für diese verschiedenen Prozesse umreißen. Ich hoffe, grundlegende Begriffe in Damasios Argumenten vorzustellen, Übereinstimmungen und Unterschiede gegenüber anderen Standpunkten in Bezug auf Emotionen und Bewusstsein festzustellen und schließlich mögliche Schwachstellen oder Fragen aufzuzeigen, die sich bei dieser eindrucksvollen Theorie ergeben könnten.

Kern dieses Unternehmens ist Antonio Damasios Annahme (die allgemein in den Theorien über Bewusstsein keine große Rolle spielt), dass das Gehirn kein Bewusstsein entwickeln kann, solange es nur Objekte und nicht auch ein primitives Selbst und nicht auch die grundlegende Weise repräsentiert, in der das Selbst durch die Wechselwirkung mit den Objekten verändert wird.

Das ist immer noch eine untypische Grundannahme für eine Theorie des Bewusstseins, da man bis vor kurzem stillschweigend annahm, dass das Selbst ruhig aus der Gleichung herausgelassen werden könnte. In diesem entscheidenden Punkt gab es kürzlich einen Gezeitenwechsel, parallel zu den überzeugenden Formulierungen in Damasios Buch. (Zu den Belegen für diesen Gezeitenwechsel gehört: (1) JCS [Journal of Cognitive Science] widmet unter Teilnahme von Dutzenden von Autoren eine Anzahl von Artikeln dem Problem (den Problemen) des Selbst; (2) ASSC [Association for the Scientific Study of Consciousness] wählt das Selbst als Thema für seinen dritten Jahreskongress; (3) das letzte ASSC-Seminar, geleitet von Kai Vogeley et al. (siehe http://server.phil.vt.edu/assc/esem.html) hatte Selbst-Pathologie bei Schizophrenie als zentrales Thema.) Es scheint jetzt zunehmend evident (mindestens in manchen Kreisen), dass es bei Bewusstsein nicht einfach um Qualia geht, sondern um die Eigentümerschaft an den Qualia. So ist Damasios Werk in Übereinstimmung mit dieser Renaissance des Selbst in der Bewußtseins-Neurowissenschaft und gibt dieser Renaisssance neue Impulse.

Die meisten der Formulierungen für das Selbst in den Arbeiten in JCS und ASSC unterscheiden sich von Damasios Formulierungen. Die meisten der gegenwärtigen Konzepte des Selbst in den genannten Arbeiten konzentrieren sich auf Repräsentationen des Selbst im Cortex und in präfrontalen Systemen, die auf einem hohen Niveau und bewusst zugänglich sind. Dem Stammhirn genaue Aufmerksamkeit zu schenken, ist zur Zeit ein sehr untypischer Ausgangspunkt für eine Theorie des Bewusstseins. In der Literatur sind aber parallel laufende Gedanken sichtbar, und Damasio steht mit vielen seiner Grundannahmen nicht allein, insbesondere mit seiner Vorstellung, dass das Selbst in seinen Ursprüngen unbewusst und subcortical ist und seine Wurzeln im Hirnstamm hat (siehe Panksepp, 1998; Watt, 1999). Ich würde sogar noch mehr betonen, dass die globale Bezeichnung "Hirnstamm" die Komplexität von Dutzenden von Strukturen vom Mittelhirn bis hinunter zum unteren Pons verschleiert, die für Bewusstsein auf eine Weise entscheidend sind, die wir jetzt erst dabei sind zu erforschen (wobei uns Damasio entschieden dazu anregt, mehr zu tun). In diesen ventral gelegenen Bereichen geht wesentlich mehr vor sich, als die einfache pauschale Metapher der "Erregung" für das klassische "reticuläre Aktivierungssystem" (RAS) uns glauben machen will, als ob dieses System nur eine Art von neuralem "Saft" liefert, um höhere thalamocorticale Systeme in Gang zu bringen und am Laufen zu halten (siehe LeDoux, 1996, für eine andere Sicht der Dinge). So bringt uns Damasio zu einer sehr viel integrierenderen und weniger abwertenden und monolithischen Sicht des "Hirnstamms", die dringend nötig ist. Im letzten ASSC-Seminar über die Pathologie des Selbst bei Schizophrenie gab ich einen Überblick über die Implikationen der zwei gegenwärtig existierenden Formulierungen über das Selbst und Bewusstsein, die mit Damasios Vorstellungen in Übereinstimmung sind, nämlich von Panksepp (1998) und Metzinger (1998).

Eine Theorie des Bewusstseins erfordert eine empirisch fundierte neurale Theorie des Selbst, eine Aufgabe, die wir in der Neurowissenschaft spät in Angriff nehmen und zwar, wie Damasio sehr scharfsinnig zeigt, wegen der weitverbreiteten "homunculus-Phobie". Er bemerkt, dass das Selbst seine zentrale Rolle verlor und zu einem kleinen Selbst im Innern des Gehirns wurde, gefangen in einem unendlichen Regress, um anschließend völlig aus dem Gesichtsfeld zu verschwinden (bis vor kurzem). Er gibt sich große Mühe, diese Fallstricke und jede Art von neo-phrenologischem "Bewusstseins-Zentrum" zu vermeiden, das im Gegensatz stünde zu der (nun obligatorischen) Annahme eines konzertierten Arbeitens verteilter Systeme (die zum guten Teil auf Luria, 1966, zurückgeht).

Weitgehend einzigartig an Damasios Formulierungen ist die Hypothese, dass die tiefstliegenden Fundamente des Selbst (das Proto-Selbst) von Systemen gebildet werden, die den Körper repräsentieren, von Systemen, die permanent nach innen gerichtet sind. Ganz oben auf der Liste der Strukturen, in denen dieses Proto-Selbst realisiert ist, stehen Systeme im Hypothalamus und Hirnstamm (vor allem Mittelhirn und Pons). Er macht die grundlegende Feststellung, dass angesichts des ständigen Fließens der Repräsentationen der Sinneswahrnehmungen der stabilste Anker für ein kontinuierliches Selbst in den ihrer Bestimmung nach homöostatischen Systemen zu finden ist, deren Aufgabe es ist, grundlegende Fluktuationen der Parameter im Organismus in den engen Grenzen zu halten, in denen das Leben erhalten wird. Nach seiner Vorstellung ist das Proto-Selbst völlig unbewusst, da es eine "Repräsentation erster Ordnung" ist, wie er es nennt. Aber diese Systeme projizieren zu anderen Systemen, die "Repräsentationen zweiter Ordnung" liefern, womit Damasio die gleichzeitige Repräsentation des Proto-Selbst, des wahrgenommenen Objekts und der Veränderungen meint, die im Proto-Selbst durch die Wechselwirkung mit dem Objekt ausgelöst wurden. Diese Repräsentationen zweiter Ordnung, die die Basis für ein Kern-Selbst bilden, beeinflussen wiederum die höheren Systeme im Cortex, die das Objekt mehr im Detail repräsentieren, wodurch die Sensorimotor-Repräsentationen der Objekt- Wahrnehmung und -Interaktion in den Vordergrund treten.

Kern-Bewusstsein, wie Damasio es nennt, ist die vorsprachliche Erzählung, die sich aus der fortlaufenden Repräsentation dieser Subjekt-Objekt-Verbindungen ergibt, aus dem "wortlosen Wissen" von der Welt und unseren Wechselwirkungen mit ihr. Erforderlich ist nur die grundlegende Fähigkeit, in allen Sinnesmodalitäten Bilder von Objekten zu erzeugen, und dieses ständige Aktualisieren des Kern-Selbst, basierend auf den Repräsentationen zweiter Ordnung der Änderungen des Zustandes des Organismus, die durch die Wechselwirkung mit dem Objekt erzeugt werden. Nicht erforderlich aber sind Arbeitsgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis (autobiographisches Gedächtnis oder Gedächtnis für "Fakten") oder komplexe Sprach- oder Handlungsoperationen, nur die Fähigkeit, emotional und zweckgerichtet auf etwas hier und jetzt zu reagieren und es abzubilden, indem Änderungen im Proto-Selbst repräsentiert werden, die mit Bildern des Objekts korreliert werden.

Erweitertes Bewusstsein stammt aus den äußersten Schichten der Zwiebel und wird geliefert von Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis und sogar semantischem Gedächtnis (Sprache und ihrem semantischen Netz). Hier erreicht Bewusstsein die volle Höhe kognitiver Ausgestaltung. Aber Damasio argumentiert richtig, dass das Kern-Bewusstsein nicht von diesen Ausgestaltungen abhängig sein kann sondern nur von der fortlaufenden Erzählung unseres "wortlosen Wissens" vom Selbst und von der Welt. Er weist auf viele Widersprüche der alten (jetzt überwiegend als falsch betrachteten) Vorstellung hin, dass Bewusstsein von Sprache abhängig ist. Er führt andere eklatante Widersprüche in den Annahmen an, dass Kurzzeitgedächtnis oder eine größere Kapazität an Arbeitsgedächtnis (mindestens in der engeren und korrekten Bedeutung, dass Bilder noch eine längere Zeit nach Verschwinden des Stimulus aufrechterhalten werden) für Bewusstsein erforderlich sind, zusammen mit komplexem Wissen über das Selbst und die Welt. Er vertritt, richtigerweise, gerade die gegenteilige Vorstellung. Kern-Bewusstsein ist unbedingt erforderlich, um diese Erweiterungen seiner selbst zu nutzen.

Erst die volle Entfaltung des erweiterten Bewusstseins mit seiner reichen Mischung von Wechselwirkungen zwischen Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis verschiedener Art und semantischen Übersetzungen unseres "wortlosen Wissens" bringt die Gesamtheit menschlicher kognitiver Fähigkeiten hervor. Das erklärt teilweise die "Kognitivierung" der Bewusstseinstheorie, indem viele kognitivistische Vorstellungen von Bewusstsein weitgehend auf diese "kognitiven Zusatzverbesserungen" gerichtet sind, die grundlegend für das erweiterte Bewusstsein, nicht aber für das Kern-Bewusstsein sind. Alle diese Verbesserungen (Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis, semantische Bedeutungen) können selbst Objekte des Bewusstseins sein, genau wie die primären Objekte, die ursprünglich in den sensorischen Systemen repräsentiert wurden. Daher ist das erweiterte Bewusstsein abhängig von dem, was Damasio den grundlegenden Trick des Kern-Bewusstseins nennt, und ist damit völlig abhängig von der Funktionsfähigkeit des Kernbewusstseins. In beiden Fällen existieren Repräsentationen der Veränderungen des Proto-Selbst, die durch die Wechselwirkung mit dem Objekt erzeugt werden, nur ist in diesem Fall die Aufmerksamkeit auf innere Objekte des Geistes statt auf äußere Objekte in der Welt gerichtet.

Die Gesamtheit der Fähigkeiten des erweiterten Bewusstseins ist korreliert mit einer dritten Schicht der Selbst-Repräsentation des Gehirns, mit dem, was Damasio das "autobiographische Selbst" nennt, das uns den Zugang erlaubt zu einem reichen und schrittweise immer umfangreicheren Vorrat von Bildern aus der ganzen Lebensspanne des Individuums, Bilder die – manchmal im Hintergrund, manchmal im Vordergrund – über die Art und Weise informieren, wie gegenwärtige Ereignisse interpretiert werden und wie darauf reagiert wird. Im autobiographischen Selbst findet die Erweiterung des Selbst in die erinnerte Vergangenheit und die vorweggenommene Zukunft statt.

Aber welche Rolle spielen die Emotionen in diesem Prozess sowohl des Kern- wie des erweiterten Bewusstseins? Dies ist eine schwierige Frage, und es zeigt sich dabei die Doppelrolle der Emotionen, die sowohl Voraussetzung für das Zustandekommen von Kern-Bewusstsein als auch mögliche Objekte des Bewusstseins sind. Damasio löst dieses verwirrende Problem des doppelten Aspekts der Emotionen in theoretisch konsistenter Weise:

Emotionen tauchen im Bewusstsein auf, wenn die Veränderungen des Organismus, die mit der Aktivierung von Emotionen verbunden sind, Veränderungen im Proto-Selbst verursachen, die in Strukturen zweiter Ordnung repräsentiert werden können – vielleicht zusammen mit den Objekten, die die Emotionen ausgelöst haben – und auf diese Weise Kern-Bewusstsein bezüglich dieser Emotionen erzeugen. Emotionale Reaktionen, einschließlich der Aktivierung wichtiger "Hintergrund-Emotionen", sind – zusammen mit verschiedenen Arten von Aufmerksamkeit und mit sinnvollen motorischen Reaktionen – ein Kriterium in Damasios Test auf Kern-Bewusstsein. Aus allen diesen Tests ergibt sich die Intaktheit von Funktionen, die Gesamtzustände betreffen (Watt, 1999).

Anders als die meisten Emotionstheoretiker schenkt Damasio der Tatsache besondere Aufmerksamkeit, dass das PAG (periaquaeduktales Grau), das anscheinend alle grundlegenden visceralen und verhaltensmäßigen Aspekte des Primäraffekts organisiert, eine Schlüsselkomponente der "peri-reticulären" Systeme ist (meine Bezeichnung), die viele Systeme im Pons und Mittelhirn einschließen, die nicht unter den Begriff des klassischen älteren RAS fallen. Sehr wenige, die auf diesem Gebiet arbeiten, haben der offenkundigen Tatsache Aufmerksamkeit geschenkt, dass das PAG einen "peri-retikuläre" Struktur ist, die wesentlich für das Bewusstsein ist. Jedenfalls fand dies wenig bis keine Beachtung im mainstream der kognitiven Ansätze für das Bewusstsein. Panksepp war der erste, der die gemeinsamen rückprojizierenden Verbindungen aller emotionalen Systeme im paralimbischen, basalen Vorderhirn und Zwischenhirn zum PAG kartierte und davon ausgehend vorschlug,, dass das PAG eine für das Bewusstsein entscheidende Struktur ist. Damasio erweitert diese Einsicht zu einer breiter angelegten Theorie der Integration der Ursprünge der Emotionen mit dem neuralen "Management" des Organismus, die grundlegend für das Proto-Selbst ist. Er stellte fest, dass die Strukturen, die eine zentrale Rolle spielen für Emotionen und Homöostase und die Aufmerksamkeits- und Schlaf/Wachheits-Systeme dicht beieinander liegen, indem er überzeugend argumentierte, dass es kein evolutionärer Zufall ist, dass sie alle ventral und dichtgedrängt angeordnet sind.

Fragen, Probleme, Hinzufügungen und Subtraktionen

[Dieser Teil des englischen Originaltextes wurde in der deutschen Übersetzung weggelassen]

Résumé

Ich möchte nicht, dass irgendeiner dieser verschiedenen Kommentare und gesammelten Pingeligkeiten Leser irreführt bezüglich dessen, worum es mir geht: Dieses ist unzweifelhaft (jedenfalls nach meinem Urteil) das beste Buch, das bis jetzt zum Thema Bewusstsein und Gehirn geschrieben worden ist. Großenteils habe ich diese verschiedenen Punkte angesprochen, weil der begriffliche Reichtum dieses Buches viele gute Ausgangspunkte für weitere Gedanken bietet, und diese sind einige von meinen. Jeder Leser wird zweifellos seine eigenen, von meinen vielleicht ganz verschiedenen haben.

Obwohl sicherlich noch vollständigere Darstellungen des Bewusstseins erscheinen werden, werden diese mindestens teilweise auf dieses Buch zurückgehen, das uns auf diesem Gebiet voranbringt. Das wird es tun, indem es sich mit vielen Stolpersteinen befasst, die einen großen Teil der Bewusstseinstheorie in verschiedene Sackgassen geraten ließ, in denen sie großenteils immer noch steckt. In die meisten dieser Sackgassen geriet man, weil es nicht gelang, den Unterschied zwischen Kern-Bewusstsein und erweitertem Bewusstsein, die wirkliche primäre Rolle der Emotionen und der Körperrepräsentationen oder die Rolle der subcorticalen und peri-reticulären Strukturen zu erkennen (oft mit einem gewisssen Maß an "anosognosia").

Das Buch wird die Experten unter den Lesern herausfordern und begeistern, während es die Leser, die keine Experten sind, nicht leer ausgehen lässt oder entmutigt. Damasio nutzt in vollem Umfang das reiche empirische Material, das von der Neurologie der Krankheiten des Bewusstseins geliefert wird und von dem einige Bewusstseinstheoretiker beinahe nichts zu wissen scheinen und dem sie geringe Aufmerksamkeit schenken. Das Buch behandelt auch in tiefgründiger und raffinierter Weise das Problem (die Probleme) des Selbst und differenziert sorgfältig die meistens übersehene hierarchische Beschaffenheit des Selbst und des Bewusstseins in separate aber eng verknüpfte Systeme. Das Buch argumentiert sorgfältig und zwingend und ist empirisch fundiert. Es verbindet die Emotionen und den Körper mit dem Problem des Bewusstseins. Damasio behandelt geschickt die begrifflichen Fallstricke in unserer gewohnten Terminologie der "maps", "neuralen (neurodynamischen) Muster (patterns)" und "Repräsentationen" (man sollte diese im Anhang versteckte Begriffsklärung nicht übersehen). Das Buch vereinigt klassische RAS-Theorie mit neoklassischer ERTAS- (extended reticular thalamic activating system)-Theorie zu einer erweiterten Theorie des ventralen Gehirns, das "Proto-Selbst-Repräsentationen und_-Strukturen" enthält. Damasio gibt bereitwillig zu, dass diese Formulierung noch keine Differenzierung der funktionalen Spezifität der Strukturen des Proto-Selbst (als des vielleicht frühesten konzertierten verteilten Systems) enthält, bei dem er auf baldige Erkenntnisfortschritte hofft. Ein weitergehendes Verständnis der funktional konzertierten rückprojizierenden Operationen der verschiedenen Proto-Selbst-Strukturen könnte eine wichtige Front in der Neurologie des Bewusstseins sein (siehe die bevorstehende E-Seminar-Serie über Krankheiten des Bewusstseins).

Das zentrale Kapitel des Buches – "Die Neurologie des Bewusstseins" -, in dem Damasio Vorstellungen vom Proto-Selbst und der homöostatischen und visceralen Regulation mit den klassischen RAS- und späteren ERTAS-Vorstellungen verbindet und zu einer umfassenden Theorie der Funktionen des Hirnstamms erweitert, ist auf brilliante Weise integrativ und orignell und gehört zu den zwei oder drei besten Stücken neurologischer Literatur, die ich je gelesen habe. Zu diesem eindrucksvollen Menue kommt noch das Vergnügen an einem literarischen und streckenweise geradezu dichterischen und bewegenden Stil hinzu.

Dass viele von Damasios Hypothesen als vorläufig zu betrachten sind, das zuzugeben ist der Autor der erste. Ob nun viele dieser Hypothesen durch zukünftige Forschung bewiesen werden oder weitgehend modifiziert oder sogar verworfen werden müssen – von Damasio kann ich mir nur vorstellen, dass er auf die Ergebnissse solcher empirischer Tests mit mehr solcher eleganten Neurowissenschaft und Kreativität antworten wird, wie sie sich in reichem Maße in diesem einen Meilenstein darstellenden Buch zeigen. Nach meinem Urteil gehört dieses Buch zu den bahnbrechendsten Arbeiten über Bewusstsein in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist eine obligatorische Lektüre für jeden, der an "dem harten Problem" interessiert ist.

Literatur

Bandler, R. and Depaulis, A. (ed. 1991), The Midbrain Periaqueductal Gray, NATO Asi Series. Series A, Life Science, Vol. 213 (New York: Plenum Press).

Cameron, A.A., Khan, I.A., Westlund, K.N., Cliffer, K.D. and Willis, W.D. (1995), ‘The eferent projections of the periaqueductal gray in the rat: A Phaseolus vulgaris-leucoagglutinin study. I. Ascending projections’, J. Comp. Neurol., 351 (4), pp. 568-84.

Cameron, A.A., Khan, I.A., Westlund, K.N. and Willis, W.D. (1995), ‘The efferent projections of the periaqueductal gray in the rat: A Phaseolus vulgaris-leucoagglutinin study. II. Descending projections’, J. Comp. Neurol., 351 (4), pp. 585-601.

Damasio, A. (1994), Descartes’ Error- Emotion, Reason, and the Human Brain (New York: Avon Press).

Engel, Andreas K., Fries, P., Roelfsema, P.R., König, P. and Singer, W. (1 997), ‘Temporal Binding, Binocular Rivalry, and Consciousness’. Association for the Scientific Study of Consciousness. On Line Seminar, htp://server.phil.vt.edu/assc/esem.html

Freeman, Walter (1995), Societies of Brains (New York: Lawrence Erlbaum Associates).

LeDoux, J. (1996), The Emotional Brain. The Mysterious Underpinnings of Emotional Life (New York: Simon and Schuster).

Llinas, Ribary, Joliot and Wang (1994), ‘Content and context in temporal thalamocortical binding’, in G. Buzsaki et al. (eds.), Temporal Coding in the Brain (Berlin: Springer Verlag).

Luria, A. R. (1966), Higher Cortical Functions in Man (New York: Random House).

Mesulam, M. (1985), ‘Patterns in behavioral neuroanatomy: Association areas, limbic system, and hemispheric specialization’, in Principles of Behavioral Neurology, ed. M. Mesulam (Philadelphia, PA: FA Davis Company).

Metzinger, T. (1998), ‘Being No One’ Plenary Address, ASSC Conference on Neural Correlates of Consciousness, 21 June 1998, Bremen, Germany. (A version of this talk will be in press for 2000 release, through T. Metzinger(2000) [ed.], Neural Correlates of Consciousness – Empirical and Conceptual Questions (Cambridge, MA: MIT Press).

Neressia, E. and Solms, M. (ed. 1999), Neuro-Psychoanalysis (International Universities Press).

Newman, J. (1997), ‘Putting the puzzle together: Towards a general theory of the neural correlates of consciousness’, Journal of Consciousness Studies, 4 (1 & 2), pp. 47-66, 101-121.

Panksepp, J. (1998), Affective Neuroseience (New York: Oxford University Press).

Schore, A. (1994), Affect Regulation and the Origins of the Self. The Neurobiology of Affective Development (Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates).

Taylor, J.G. (1999), The Race for Consciousness (Cambridge, MA: MIT Press).

Vogeley, Kai, et al. (1999), ‘The human self construct & prefrontal cortex in schizophrenia’, Association For The Scientific Study Of Consciousness Electronic Seminar: http://server.phil.vt.edu/assc/esem5.html

Watt, D.F. (1995), ‘Central challenges to neural network theory: syndromes of diseased consciousness, the ontogenesis of limbic networks and the phenomenology of value’, July 1995, Syllabus of the World Congress of Neural Networks (out of print – available by request from drwatt@msn.com).

Watt, D.F. (1998), ‘Affective neuroscience and extended reticular thalamic activating system (ERTAS) theories of consciousness’, Association for the Scientific Study of Consciousness Electronic Seminar: http://server.phil.vt.edu/assc/esem4.html

Watt, D.F. (1999), ‘Affective neuroscience and extended reticular thalamic activating system (ERTAS) theories of consciousness’, Proceedings of Ischia Conference on Emotion and Consciousness (in press).


Nürnberger Zeitung Seite 6 – NZ Nr. 77 vom Samstag, 31. März 2001

Sind wir die Herren unserer Hirne?

Antonio Damasios Bestseller "Ich fühle, also bin ich" verspricht Einblicke in die "Entschlüsselung des Bewusstseins"

Die philosophische Karriere des Bewusstsein ist nur wenige Jahrhunderte alt. Sie reicht von Descartes (1596-1650) bis Husserl (1859-1938). Die Griechen, von denen sonst fast alle Ausgangsfragen herkommen, hatten nicht einmal ein Wort für diese Sache.

Ein plötzliches Ende aber fand diese Karriere mit dem "linguistic turn" in der Philosophie. Diese Wendung zur Sprache vollzog sich gewissermaßen aus Frust über die bewusstseinsphilosophischen Ansätze. Immer wieder kam es zu Abstürzen in den Psychologismus. Husserls sorgfältige Vorkehrungen dagegen waren den meisten viel zu kompliziert.

In der Sprache hatte man da etwas wesentlich Handfesteres und allgemein Zugängliches, während "Ich-Bewusstsein", "Erlebnisse", "Vorstellungen" notgedrungen "private" Phänomene sind, wie man neuerdings zu sagen pflegt, die sich intersubjektiver Kontrolle entziehen. Kein Zweifel, die sprachanalytische Philosophie war ungemeinem erfolgreich. Zu guter Letzt wurde es sogar zu einem Sport, auch die Bewusstseinsphilosophie, sprachanalytisch aufzurollen. Allerdings ist das nicht gerade etwas für Einsteiger.

Von ganz anderer Seite aber bahnt sich eine neue Karriere des Bewusstseins an. Neuerdings nämlich versucht die Hirnforschung, neben der Molekularbiologie eine der Zukunftsdisziplinen, das Bewusstsein zu enträtseln. Und das Publikumsinteresse ist riesig.

Merkwürdigerweise hat diese neue Stoßrichtung des Forschens und Fragens auch gleich ihren philososchen Segen bekommen, seitdem Raimund Popper sich mit dem australischen Hirnforscher John Eccles unterhalten hatte, obwohl doch von vornherein klar sein müsste, dass Empfindungen, Gefühle, Erlebnisse, Vorstellungen, das Ich-Bewusstsein nirgends im Hirn anzutreffen sein werden, wie abhängig diese Dinge sichtlich auch von bestimmten Hirntätigkeiten sind.

Nur einzelne Stücke

Hier gilt uneingeschränkt, was Leibniz im § 17 seiner "Monadologie" schrieb: "Übrigens muss man notwendig zugestehen, dass die Perzeption und was von ihr abhängt auf mechanische Weise, das heißt mit Hilfe von Figuren und Bewegungen, unerklärbar ist. Nehmen wir einmal an, es gäbe eine Maschine die so eingerichtet wäre, dass sie Gedanken, Empfindungen und Perzeptionen hervorbrächte, so würde man sich dieselbe gewiss proportional-vergrößert vorstellen können, dass man in sie hineinzutreten vermöchte wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, wird man bei ihrer inneren Besichtigung nichts weiter finden als einzelne Stücke, die einander stoßen, und niemals etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre.

Aber unbeeindruckt von dieser Überlegung machen sich heute Neurologen anheischig, gerade dem Mechanismus des Bewussteins" zu erklären, wie zum Beispiel Antonio R. Damasio – ein Bestseller-Autor – in seinem Buch "Ich fühle, also bin ich" mit dem anspruchsvollen, wenn nicht sogar schon großkotzigen Untertitel "Die Entschlüsselung des Bewusstseins".

Dass Damasio hohe Auflagen erreicht, verwundert nicht. Er ist kein " trockener Gelehrter. Er kann schreiben. Fast im, Plauderton breitet er die kompliziertesten Sachen aus. Außerdem hat eben Hirnforschung ähnlich wie die Urknalltheorie nun einmal Konjunktur. Sie hat etwas Kitzlig-Unheimliches. Auch hier wird an einer Grenze gekratzt.

Ansprechend an Damasio ist auch, dass er nicht nur wieder mit anderen Hirnforschern kommuniziert, sondern genauso Shakespeare oder Beckett in seine Betrachtungen einbezieht. Außerdem ist er ein exzellenter Kenner vieler philosophischer Bewusstseinstheorien, begonnen bei Descartes und Malebranche bis hin zu William James und Whitehead. Ja, was Damasio selbst zunächst auf einer philosophisch-phänomenologischen Ebene zu einer Theorie des Bewusstseins beizutragen hat, ist beachtlich.

Für ihn sind das allerdings nur begriffliche Vorarbeiten. Richtig zur Sache kommt er, wo er sein "neuropathologisches Seziermesser" einsetzt, das es ihm ermöglicht, verschiedene Bewusstseinsfunktionen gegeneinander abzugrenzen, die man ohne dieses Seziermesser gar nicht zu unterscheiden vermocht hätte.

Damasio verfügt über einen großen Fundus exemplarischer Patientengeschichten. In der Mehrzahl sind es Schlaganfallpatienten, die je bestimmte Bewusstseinsleistungen nicht mehr erbringen können. Für diese Defizite werden dann ziemlich genau lokalisierte Schädigungen in den räumlichen Hirnstrukturen ausgemacht, heute meist nicht mehr durch Obduktion, sondern mit bildgebenden den Hightech-Verfahren, die solche Lokalisierung schon am lebenden. Objekt erlauben, genauer als mit dem wirklichen Seziermesser.

Die Zuordnung von bestimmten Bewusstseinsleistungen zu bestimmten räumlichen Hirnstrukturen wird im Übrigen häufig dadurch abgesichert, dass man im Tierexperiment gezielt Läsionen beibringt und dann Reiz- und Reaktionstests, Hirnstrommessungen und so weiter vornimmt. Eine ziemlich gruselige Angelegenheit. Nicht umsonst sind Hirnforscher bei Tierschützern nicht besonders gut angeschrieben. Solche Tierversuche kommen bei Damasio zum Glück nur am Rande vor. Da geht Reinhard Werth in seinem Buch "Hirnwelten" (C. H. Beck Verlag) wesentlich schonungsloser mit dem Leser um.

Die Zuordnung von Hirnstrukturen zu bestimmten Bewusstseinsfunktionen macht deutlich: das Hirn ist ein hochkompliziertes System von Systemen, das allerdings naturgeschichtlich zu Stande gekommen, also nicht unbedingt nach einem rationalen Bauplan konstruiert ist. Vor allem gibt es im Hirn nicht so etwas wie einen "Zentralcomputer", eine räumliche Struktur, die man mit dem "Mann im Hirn", dem "Homunculus", dem "eigentlichen Ich" gleichsetzen könnte, das man bei naiven Erklärungsversuchen der Hirnarbeit immer schon voraussetzt, etwa wenn man von dem "Vorstellungsfilm im Kopf" redet, für den es ja einen Zuschauer geben müsste.

Drei Stufen des Selbst

Die Ergebnisse von Damasios "Entschlüsselung des Bewusstseins sind ziemlich unspektakulär. Grundsätzliche Überlegungen sowie die Analyse von Krankheitsbildern lassen ihn drei verschiedene Stufen des Bewusstseins postulieren, ein noch vorbewusstes "Protoselbst", ein "Kernselbst" und das "autobiografische Selbst" des erweiterten Bewusstseins. Letzterem verdankt der Mensch seine Kulturleistungen. Aber dieses autobiografische Selbst basiere auf dem bereits einer verhältnismäßig frühen Evolutionsstufe angehörenden Kernselbst.

Das heißt, die Aussage über das Evolutionsalter konnte erst gemacht werden, nachdem die hirnphysiologischen Stützpunkte dieses Kernselbst, wie hypothetisch auch immer, lokalisiert waren. Damasio überschüttet hier den Leser mit seinen genauen Kenntnissen der Hirnlandschaften: limbische Cortexfelder, Thalamus, Insel, Pons, Lobus frontalis, temporalis, parietalis – und die Brodmannareale 1 bis 47. Für den Laien bleiben das böhmische Dörfer, auch wenn ihm im Anhang Hirnkarten und ein Glossar Hilfestellung geben.

Tiere mit Bewusstsein?

Wie nun das Hirn wirklich die unzähligen Reize und Informationen aus der Außenwelt und der diesem Hirn zugehörigen Körperwelt verarbeitet, darüber äußert Damasio nur sehr vage Vermutungen. Entschieden vertritt er allerdings die These, es müsse schon ein vorsprachliches Bewusstsein geben. Es gibt mithin keinen ernsthaften Hinderungsgrund, auch Tieren Bewusstsein zuzusprechen.

Der Titel des Buches "Ich fühle, also bin ich" ist eine Anspielung auf Descartes und zugleich eine Korrektur seines berühmten Satzes "Ich denke, also bin ich". In diesem Punkt scheint unter den naturwissenschaftlichen Bewusstseinsforschern Übereinstimmung zu herrschen. Zumindest äußert sich Nicholas Humphrey in seiner "Naturgeschichte des Ich" (Knaur-Taschenbuch 77275) ganz entsprechend.

Denken, wahrnehmen, lernen, das sind alles mittels der Hirnapparatur vollziehbare Leistungen, die auch unbewusst möglich sind, ja, ohne das störende Dazwischentreten des Bewusstseins viel glatter vonstatten gehen (zum Beispiel lernen wir so die Grammatik unserer Muttersprache). Die intelligenten Maschinen, die inzwischen schon Alltagsgerät sind, demonstrieren das ständig. Was Wesen mit Bewusstsein vor intelligenten Maschinen auszeichnet, sind Empfindung und Gefühl, auch das Kernselbst sei auf der Bewusstseinsseite als ein pulsendes Ichgefühl aufzufassen.

Ein Fühlen des Fühlens

Damasio präzisiert: Es ist ein Fühlen des Fühlens. Das Gefühl ist ein Körpergefühl, zu dem es aber auch nur kommen kann durch das Hinzutreten eines Objekts und der gleichzeitigen (vorsprachlichen) "Beschreibung" des Verhältnisses des eigenen Körpers beziehungsweise Selbst zu dem Objekt. Auf phänomenologischer Ebene zeigt Damasio erstaunliche Gemeinsamkeiten mit dem wohl tiefgründigsten Philosophen des Selbstbewusstseins, Fichte, den er allerdings gar nicht zu kennen scheint.

Die Frage, ob es eines Tages Computer geben werde, die nicht nur "ich" sagen, sondern ein Ichgefühl haben, die empfinden werden (Empfindungen sind immer primär Selbstempfindungen), wagt Damasio nicht zu entscheiden, der im Übrigen mit Computermodellen des Gehirns im Gegensatz zu Nicholas Humphrey ziemlich zurückhaltend ist. Selbst die Frage, ob wir nicht doch eines Tages das Sehen eines anderen sehen, sein Erleben erleben können, wagt Damasio nicht definitiv zu entscheiden, obwohl man doch eigentlich mit Husserl die Unmöglichkeit davon einsehen müsste. Aber mit solchen Einsichten hätten wir notgedrungen die neurologische Ebene verlassen.

Holger Jergius


Süddeutsche Zeitung, 9. Oktober 2000 (Auszug)

Mein Gram wohnt ganz innen

Wie aus den Gefühlen ein Ich wird – ein Gespräch mit dem Neurologen
Antonio R. Damasio über die Chemie der Emotionen

Antonio R. Damasio ging 1976 von Harvard nach Iowa City im mittleren Westen Amerikas, um dort das weltgrößte Archiv für Störungen im Denken, Fühlen und Handeln aufzubauen. Von 2525 Kranken hat der Neurologe dort inzwischen die Geschichten und die Bilder ihrer Gehirne zusammengetragen. Manche seiner Patienten können keine Angst oder keine Freude empfinden, andere haben keine Erinnerung mehr. Damasio und seine Frau Hanna untersuchen die Anatomie dieses Leids, um daraus Einsichten in die Arbeitsweise des menschlichen Geistes zu gewinnen. Diese Studien machen den aus Lissabon stammenden Damasio für den Medizin- Nobelpreisträger David Hubel zum "herausragendsten Neurologen der Welt". Damasios erstes Buch "Descartes’ Irrtum", in dem er die abendländische Trennung von Gefühl und Verstand widerlegte, war ein Bestseller. Sein neues Buch "Ich fühle, also bin ich" ist eben im List Verlag erschienen. Stefan Klein sprach mit Antonio Damasio in Hamburg.

...

Sie begannen die medizinische Laufbahn, weil Sie das Wesen des Menschen erforschen wollten.

Und das ist es, was mich an der Stange hält. Ich will die menschliche Natur erfassen. Ihre Schönheit fasziniert mich noch immer.

Sie haben die Innenansichten von mehr als 2000 beschädigten Gehirnen in Ihren Computern gespeichert. Was lernen Sie daraus über das Wesen des Menschen?

Etwas, was wir anders niemals erfahren würden: Wenn ein Teil des Hirns ausfällt, zeigt er uns, wozu dieser im gesunden Kopf gut war. Wir hatten zum Beispiel eine Vermutung über das Mitgefühl: Wer Mitleid hat, muss Schmerz eines anderen Menschen im eigenen Körper simulieren können. Dazu sind bestimmte Hirnregionen nötig, die ein Abbild des Körpers im Kopf erzeugen. Patienten, bei denen diese Teile geschädigt sind, sollten also weder eigene noch fremde Schmerzen erleben können und deswegen zu Mitgefühl außerstande sein. Genau so ist es – vor kurzem konnten wir das nachweisen.

Naturwissenschaft ist Messen. Wie misst man ein Gefühl?

Emotionen sind nur scheinbar vage. Man kann sie objektivieren. Emotionen sind Antworten auf einen Reiz – elektrisch-chemische Reaktionen, die in bestimmten Hirnregionen erzeugt werden, um den Körper oder andere Teile des Gehirns zu steuern. Diese Signale können wir nachweisen. Dazu kommen Videoaufnahmen vom Verhalten der Versuchsperson und ihr Bericht aus der Innenansicht. Wir haben zum Beispiel Versuchspersonen gebeten, sich sehr glückliche und sehr traurige Momente ihres Lebens vorzustellen: das Wiedersehen mit einen geliebten Menschen, den Tod der Eltern. Dabei legten wir sie in einen Positronen-Emissions-Tomographen, der den Stoffwechsel verschiedener Hirnregionen misst. Manche begannen wirklich zu weinen! Auf dem Bildschirm konnten wir verfolgen, welche Gehirnstrukturen aktiv sind, wenn jemand Glück oder Trauer empfindet, und welche Veränderungen im Körper ausgelöst werden. Die Studie haben wir eben veröffentlicht.

Vor ein paar Jahren noch wäre das Science-Fiction gewesen.

Hätte mir damals jemand erzählt, wir würden dem Ursprung von Gefühlen im Gehirn nachgehen können, ich hätte darüber gelächelt. Heute sind wir soweit. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir weitere solche Strukturen entdecken. So finden wir heraus, wie das Gehirn den Geist erzeugt.

In Ihrem neuen Buch behaupten Sie, das Bewusstsein wissenschaftlich erklären zu können. Diese Frage ist so etwas wie ein heiliger Gral der Philosophie und der Theologie. Für die Naturwissenschaft war dieses Problem lange tabu ...

... weil man sich nicht einigen konnte, worüber man eigentlich redet. Und Naturwissenschaftler mögen keine unscharfen Fragen.

Was haben Sie ihnen anzubieten?

Ich versuche die Sache so scharf wie möglich zu formulieren. Zum Bewusstsein gehört zweierlei: Erstens das Kino im Kopf, also der Strom der vorüberziehenden Bilder, Gedanken und Gefühle. Zweitens das Selbst, also der Eigentümer des Kinos im Kopf. Wenn man das Problem so fasst, kann man es mit den Methoden der experimentellen Hirnforschung angehen.

Wie gelangt man von Computerbildern des Gehirns zu einer Theorie des Bewusstseins?

Bei einem meiner Patienten ergab die Diagnose, dass eine Hirnhautentzündung weite Teile des Großhirns zerstört hat, Regionen, die viele für das Bewusstsein für notwendig hielten. Zwar hat dieser Mann kein Gedächtnis mehr, und stellt man ihn vor den Spiegel, so erkennt er sich nicht. Dabei weiß er sehr genau, dass alles, was er erlebt, mit ihm selbst zu tun hat. Also kann es Bewusstsein sogar geben, ohne dass man sich selbst kennt – anders, als man lange dachte.

Zu den erstaunlichsten Beispielen in ihrem Buch gehören Epileptiker, die während ihrer Anfälle tatsächlich zu Zombies werden. Völlig wach, verlieren sie Bewusstsein und Gefühle.

Diesen Patienten bleibt eine Art Geist, aber diesem Geist fehlt das Selbst. Sie können mit ihnen sprechen, aber während der ganzen Zeit zeigen sie überhaupt keine Emotion. Diese Leute haben Bilder im Gehirn, ein Kino im Kopf – doch sie wissen nicht, dass es sich um ihre Erlebnisse handelt. Es fehlt ihnen der Sinn für das Selbst. Sie ordnen ihre Erlebnisse nicht mehr dem eigenen Organismus zu.

Was ist der Sinn für das Selbst?

Ein Mechanismus, der Ihnen bei allem, was Sie tun oder erleben, wie eine Litanei ständig erklärt: Das bist du, das bist du. Wenn man Ihnen das wegnähme, dann würden Sie, wie besagte Epileptiker, ein Zombie. Sie hätten einen Geist ohne Besitzer.

Und dieser Mechanismus ist untrennbar mit dem Körper verbunden.

Genau. Egal, was Sie gerade sehen, hören oder denken – alles wirkt auf den Körper ein, verändert den Organismus. Das Gehirn beobachtet diese Veränderungen und stellt eine Verbindung zu dem her, was ihnen gerade im Kopf herum geht. So entsteht das Gefühl für das Selbst.

Die theologischen und philosophischen Traditionen sehen das Bewusstsein als die höchste Stufe des Geistes an. Sie dagegen ordnen es niederen Hirnteilen zu, die sich mit dem Körper beschäftigen. Sind sie ein Bilderstürmer?

Die Tradition ist einfach falsch. Man hat das Bewusstsein immer von oben nach unten betrachtet. Ich stelle es in einen viel natürlicheren, einen evolutionären Zusammenhang: Bewusstsein begann mit Organismen, die komplex genug waren, ihren Körper im Gehirn abzubilden. Das verschaffte ihnen einen Vorteil im Überlebenskampf. Auf dieser Grundlage entwickelten Menschen noch andere nützliche Dinge – vor allem für Wesen, die in der Gruppe leben: Mitgefühl, Ethik, Kreativität, Kunst, Wissenschaft. So klärt sich die uralte Frage, warum es Bewusstsein überhaupt gibt.

Sie sagen, unser Geist sei nur von Materie bestimmt. Eine Seele gebe es nicht. Wie können Sie da so sicher sein?

Offensichtlich geht alles, was wir erleben, auf die Tätigkeit von Neuronen im Hirn zurück.

Und wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass es darüber hinaus noch eine Substanz gibt, die eine immaterielle Seele erzeugt. Deswegen sollten wir zuerst erst nach einer physikalisch-biologischen Begründung für das Phänomen Geist suchen.

Das ist ein pragmatisches Argument.

Ja. Erst, wenn wir alle Eigenschaften der Materie erforscht haben und zum Schluss gekommen sind, da ist nichts, was den Geist erklären kann, dann sollten wir von einer Seele reden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Im übrigen fällt es mir nicht so schwer, mir vorzustellen, dass Schaltkreise in meinem Gehirn sehr komplizierte Muster erzeugen, die wir Geist nennen. ...

Sie beschreiben Geist und Gehirn in der Sprache der Naturwissenschaft. Könnte es nicht sein, dass Ihnen dabei etwas entgeht?

Natürlich. Wer behauptet, dass wir schon alles über den Menschen wüssten, ist einfach dumm. Letztlich ist unser Vermögen, etwas über die Welt und uns herauszufinden, durch das Fassungsvermögen unserer Gehirne begrenzt.

Auch Kunst und Literatur versuchen, den Geist zu erfassen. Sehen Sie Berührungspunkte zu Ihrer Arbeit?

Ich finde meine wissenschaftlichen Fragen in der Dichtung wieder – als ob man sich mit all dem schon einmal beschäftigt hätte. Shakespeare zum Beispiel waren die Phänomene des Bewusstseins sehr vertraut. Nehmen Sie Hamlet, wie er sein Verhältnis zur Mutter, zum Onkel, zu den Menschen am Hof, zum Universum reflektiert. Die Art, wie Shakespeare das beschreibt, ist geradezu eine Analyse des Bewusstseinsstroms. Indem sich die Menschen Shakespeare angesehen haben, ist ihnen immer klarer geworden, was in ihren Köpfen vorgeht.

Was die Neurowissenschaft im Gehirn sucht, hat Shakespeare also nach außen gestülpt, auf die Bühne gestellt?

Genau. Da hat ein großer Künstler unsere Arbeit erledigt. Denken sie nur an Richard II., wenn er sagt: "Mein Gram wohnt innen ganz, und diese äußern Weisen der Betrübnis sind Schatten bloß von ungesehenem Gram." Emotionen sind für andere sichtbar, Gefühle dagegen privat.

...

Kein Forscher des 20. Jahrhunderts hat Kunst und Literatur so angeregt wie Sigmund Freud. Aber nur noch hart gesottene Jünger würden seine Lehre eine Wissenschaft nennen.

Freud hat in Kategorien der Evolution gedacht. Ganz richtig hat er die enorme Macht der Gefühle erkannt, und wie eng sie mit dem Körper verknüpft sind. Und dass es Bereiche des Geistes gibt, die dem Bewusstsein kaum zugänglich sind. Dafür gehört der junge Freud ins Pantheon der größten Denker aller Zeiten. Als Therapie ist die Psychoanalyse allerdings fragwürdig, weil nicht überprüfbar.

Wie wird Hirnforschung die Psychiatrie verändern?

Auf ganz dramatische Weise. Bisher haben glückliche Zufälle zur Entdeckung neuer Psychopharmaka geführt. Aber je besser wir in der Anatomie sind und die Arbeitsweise des Gehirns kennen, desto gezielter können wir nach Mitteln suchen. Diabetes ließ sich auch erst mit Insulin behandeln, als der Zuckerstoffwechsel verstanden war.

Wir werden den Stoffwechsel der Gefühle verstehen?

Ja.

...


Wissenschaftler- und Pressestimmen zum Buch:

David Hubel (Nobelpreisträger, Harvard University): "Antonio Damasio ist vermutlich der herausragendste Neurologe in der Erforschung der Gehirnfunktionen. ["The Feeling of What Happens" ist] ein herausragender und enorm ehrgeiziger Versuch, Bewusstsein zu verstehen."

Eric Kandel (Columbia University): "In diesem wunderbar geschriebenen Buch umreißt Antonio Damasio seine ... Definition des Bewusstseins ... und zeigt, wie das Verständnis des Bewusstseins wissenschaftlicher Forschung zugänglich gemacht werden kann."

Jean-Pierre Changeux (Pasteur-Institut): "Damasios Buch enthüllt – zum ersten Mal – in einer überzeugenden und meisterhaften Weise die neurobiologischen Grundlagen des Selbst."

Jerome Kagan (Harvard University): "Dies ist ein außergewöhnliches Buch. Ich kenne nicht seinesgleichen."

Patricia and Paul Churchland (Philosophen, University of California, San Diego): "Wie kein anderer Autor zu diesem Thema präsentiert Damasio auf hohem literarischem Niveau eine brillante wissenschaftliche Hypothese. Jeder wird davon sprechen. Jeder wird das Buch gelesen haben müssen."

Douglas F. Watt (Director of Neuropsychology, Quincy Hospital, Quincy, MA, USA) in "Journal of Consciousness Studies" (7, No. 3, 2000): "Dies Buch ist ein Meilenstein ... Nach meinem Urteil gehört dieses Buch zu den bahnbrechendsten Werken der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Lektüre ist ein "muss" für jeden, der sich für das ‘harte Problem’ [des Bewusstseins] interessiert."

Peter Brook, theater and film director: "Dieses Buch ist wunderbar – ein Werk von großer Bedeutung und Wichtigkeit. Es stellt eine großartige Einheit von dichterischer Intuition und exakter Forschung dar."

Jorie Graham, poet and Pulitzer Prize winner: "Man kann es nicht einfacher sagen: Lesen Sie dieses Buch und Sie verstehen, wer Sie sind."

Sunday Times (London): "Eine der besten Geschichten über das Gehirn, die in diesem Jahrzehnt geschrieben wurden. ... Dies Buch muss jeder gelesen haben, der die größten ungelösten Geheimnisse aus neurologischer Sicht betrachten möchte. ... Eine seltene Leistung unter den Büchern über das Bewusstsein."

New York Times Book Review: "Eine atemberaubende und originelle Perspektive ... In einer phantastischen Vereinigung von Evolutionsbiologie, klinischer Neurologie und Neuropsychologie nimmt Damasio seinen Leser mit auf eine Forschungsreise in den bisher dunklen Kontinent des Bewusstseins. Viele bedeutende und weise Denker haben sich vor ihm dahin gewagt. Keiner hat eine so zwingende und überzeugende Darstellung geschrieben."

Nature: "Damasios phantastisches neues Buch liefert uns nicht nur eine Beschreibung der Verkörperung von Gefühlszuständen, sondern auch einen damit in Zusammenhang stehenden Vorschlag zum Verständnis zweier wichtiger Fragen der Neurowissenschaft. ... Die erstaunliche Kühnheit von "A Feeling of What Happens" besteht darin, diese Fragen ungeniert in Angriff zu nehmen. Was dabei herauskommt, ist die erste überzeugende Beschreibung des Bewusstseins und des Selbst. ... Ein bemerkenswertes Werk von intellektuellem Wagemut."

Time: "[Damasio] hat nicht nur Argumente dafür, dass das menschliche Bewusstsein zu verstehen ist, sondern liefert auch eine atemberaubend originelle Erklärung dafür, wie es funktioniert. Was seine Ansichten so bemerkenswert macht, ist, dass sie nicht auf theoretischem Sinnieren beruhen sondern auf klinischer Forschung an Patienten, die an Epilepsie erkrankt sind oder durch einen Schlaganfall, eine Krankheit oder einen Unfall Hirnschäden erlitten haben."

Scientific American: "Die klare, schöne Sprache des Buches, die faszinierenden Fallstudien und die Art, wie es schwierige wissenschaftliche Gegenstände für Leser mit vielen unterschiedlichen Interessen lebendig werden lässt, macht es vielleicht zu einem Meilenstein in dem interdisziplinären Projekt der Bewusstseinsforschung."

Gazeta Mercantil(Säo Paulo): "Ein brillantes Buch, in dem nichts fehlt und nichts zu viel ist. Die Ideen reihen sich fließend aneinander und die Sprache ist für jeden verständlich. ... Das Buch ist ein Schritt vorwärts auf einer mit Zweifeln beladenen Reise. Es ist vielleicht der Grundstein einer zuverlässigen Vorstellung vom menschlichen Geist."

The Guardian(London): "Was sich ereignet, wird lebendig, wenn Damasio über Neurologie schreibt. Die Fallgeschichten sind wunderbar frisch und einfach. ... Es gibt wenig interessantere Dinge auf der Welt als der Ursprung und die Arbeitsweise des Bewusstseins, und es gab kaum einen Autor, der besser geeignet wäre, sie zu erklären."

Dallas Morning News: "Was an diesem Buch – abgesehen von seinem wissenschaftlichen Wert – so eindrucksvoll ist, ist seine klare Ausdrucksweise. ... Die Freiheit des Autors von Jargon und leerem Gerede, seine sorgfältigen Zusammenfassungen und Umformulierungen, seine klaren Gedankenlinien und seine durchgängige Beachtung der Bedürfnisse des nicht-eingeweihten Lesers machen dieses Buch zu einem Musterbeispiel beindruckender wissenschaftlicher Literatur."

The Bloomsbury Review: "Damasio kann Ihnen zeigen, wie faszinierend Sie tatsächlich sind. Er ist nicht nur einer der seltenen Schriftsteller, die erfrischende Prosa über einen manchmal diffusen Gegenstand zustandebringen. Er ist ein aktiver und bahnbrechender Forscher auf den Gebieten, über die er schreibt. ... Es erfordert Aufmerksamkeit, wenn man Damasio als Wegbereiter folgen will. Überschlagen Sie nicht die Lektionen über Neuroanatomie, dann werden Sie belohnt durch erfrischende Einsichten und Verblüffungen."

Journal of the Royal Society of Medicine: "Antonio Damasio ist eine der herausragenden Figuren auf diesem Gebiet. Er besitzt das profundeste Wissen über höhere menschliche geistige Fähigkeiten. ... Sowohl "Descartes’ Irrtum" wie "Ich fühle, also bin ich" stellen eine Lektüre dar, um die man nicht herumkommt. Sie sind bahnbrechende Klassiker der Psychologie und der Neurowissenschaften. Dies sind Bücher, die man kaufen, an denen man dranbleiben und über die man nachdenken muss. Tun Sie das, und Sie werden dem Tross um mindestens zehn Jahre voraus sein."

A PUBLISHERS WEEKLY Best Book of the Year

A LIBRARY JOURNAL Best Book of the Year