Geist und Bewußtsein I

Ein Versuch über den menschlichen Geist

Helmut Walther (Nürnberg)

1. Versuch über den Geist
2. Empirische Selbstreflexion
3. "Aufbau des Geistes"
4. Sinnesorgane und Abstraktion
5. Die Verstandeskategorie
6. Das Ich und sein Gefühl von sich
7. Der Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl
8. Sprache, Denken und Ich-Sphäre

 

Versuch über den Geist

Stellt man Thesen zur Herkunft und zu den Voraussetzungen des menschlichen Geistes auf, so geschieht dies mit eben diesem selben Geist, der ganz offenbar, wenn vielleicht auch in begrenzter Weise, über die Fähigkeit verfügt, sich selbst zu begreifen. Einleitend läßt sich somit konstatieren, daß unser Geist ein Werkzeug sei, ganz ähnlich unseren Händen: so, wie wir jene benutzen, um uns das Außen dienstbar zu machen, ebenso den Geist. Und ebenso, wie wir mit der einen Hand auch die jeweils andere betasten können, so auch der Geist: indem er sich in Reflexion zu sich selbst begibt und sich auf dem Bewußtseinsspiegel verdoppelt, setzt er sich selbst sich vor, um sich dort zu betrachten. An dieser Möglichkeit, sich derart neben sich selbst zu stellen, vermag dieser Geist abzunehmen, daß er selbst nur Werkzeug, nur dienender und bedingter Natur sei; daß "etwas" im ihn beherbergenden Individuum vorhanden sein müsse, das mehr als er selbst in seiner dienenden Funktion sei. Dies erkennend wird er all seine Tätigkeit, die ihn bis zu diesem Reflexionspunkt geführt hat, einordnen können in ein "System", wenn auch nicht gerade in das System ... Einem sich selbst recht verstehenden Geist wird es weniger auf die Beobachtung dessen ankommen, was man als "Hardware" bezeichnen könnte (von wo aus allerdings noch heute viele Wissenschaftler das Prinzip "Geist" erklären zu können meinen – etwa Eccles; ansatzweise auch Changeux oder Calvin): weiß er doch, und dies genügt zunächst, daß diese Hardware in Form einer neuronalen Neokortexvernetzung einschließlich des Klein- und Stammhirns vorhanden ist; daß aber direkt aus ihr selbst seine eigene Funktion nicht erklärt werden kann, sondern daß diese Hardware nur Unterlage und Folie ist. So wird er sich selbst nicht von unten, sondern von oben her betrachten, indem er sich mit seinen eigenen übergreifenden Zentren und Funktionen und deren möglicher Herkunft beschäftigt. Damit trägt er der Tatsache Rechnung, daß bei lebendigen Organismen auf rein materialistischer Basis keinerlei Aussagen gemacht werden können, sondern daß vielmehr das Entscheidende sei an aller Materie deren Bestimmung, nach welcher sie doch erst gebaut ist – und nicht umgekehrt, daß sich ihre Bestimmung aus ihrem Bau ergebe. Deshalb muß der Geist zumindest zunächst von der rein materiellen Basis wie Nerven und Neuronen abstrahieren und sich seinen größeren Einheiten zuwenden, welche als Funktionsschichten über dieser materiellen Basis seinen eigentlichen Bauplan erst ausmachen. Dies aber kann er nur so, daß er sich selbst als geschichtlich begreift, weshalb er diese Geschichte zu verstehen suchen muß: daß er selbst und seine heutige Funktion das Ergebnis dieser aufeinander geschichteten Funktionsebenen sind.

Die nächsten Fragen stellen sich dann quasi selbst: was eigentlich es sei, das hier schichtet – und was denn vor ihm selbst dagewesen sei, worauf er selbst funktionell aufbaut. Dann wird er vor sich selbst wiederum weitere Schichtungen finden, eine Häufung von Systemen, die in Richtung auf ihn selbst eine sich steigernde synthetische Wahrnehmung des Außen ermöglicht und prinzipiell auf die gleiche Weise zustandegekommen ist wie er selbst. Zwei wirksame Faktoren sieht er auf diesem Wege zu sich selbst hin: eine Wechselwirkung zwischen dem jeweils erreichten Status und dem Außen – und als eigentlich Bedingendes ein treibendes Agens in den Lebewesen. Daraus wird er einerseits seine Bedingtheit einsehen lernen, andrerseits aber ebenso erkennen, daß auch er selbst wiederum eine Bedingung ist. Einmal, als er nunmehr selbst in seiner Eigen-Art die Wechselwirkung mitbestimmt, zum andern, weil er erkennt, daß er selbst insofern am Unbedingten teilhat, als er, wenn er alle Bedingtheit als solche von sich abstreift, indem er sich in der Doppelreflexion selbst durchdringt, nicht etwa ihm nichts mehr übrigbliebe! – sondern daß er dann das eigentlich Wirkende in sich erahnen und zu jenem in Kontakt treten könne.

So entspricht der Tatsache, daß der Geist bedingt wie Bedingung sei, völlig seine Doppelnatur: daß er einmal Werkzeug des Individuums ist; daß er aber gleichzeitig eine Teilverwirklichung in – jedenfalls bislang – höchstmöglicher Ausformung des durchdringenden Bewußtseinsprinzips sei, in welchem jenes Agens ("élan vital") in einer Bewegung die Geschichte und Schichten, letzere verkörpert in den jeweils lebenden Individuen, hervorbringt.

Empirische Selbstreflexion

Worüber man auch nachzudenken beginnt, wenn man sich nicht von vornherein völlig Abstraktem zuwendet, so erfährt man das, worüber man denkt, als einen Oberbegriff des Gedächtnisses, unterhalb dessen in gewisser Reihenfolge Tätigkeiten und/oder Erlebnisse gespeichert sind, die mit jenem Begriff zusammenhängen. Denkt man etwa das Wort "Urlaub", so fächert sich sofort eine ganze "Sparte" von Zugriffsmöglichkeiten auf, es ist eine Auswahl möglich von der abstraktesten Bedeutung des Begriffes bis zum konkretest Selbsterlebten. Für den zweiten Fall des Selbsterlebten scheint zu gelten, daß im Gedächtnis eine zeitliche Reihung von jeweils neuesten bis hin zu den frühesten Erinnerungen eingehalten ist – so erscheinen auf dem inneren Auge zunächst die zuletzt erlebten Ferien, dann die weiter zurückliegenden usf. bis zu den zeitlich letzten willentlich erinnerbaren Assoziationen zum Begriff Urlaub. Neben der zeitlichen Reihung fällt weiter schlagend auf eine unterschiedliche "Kraft", Lebendigkeit und daraus folgend ein "sich Vordrängen" bestimmter Erinnerungen. Diese Einordnung ist nicht zeitlich gestaffelt, sondern nimmt ihre Kriterien aus der Wertigkeit her: daß bestimmte Erinnerungen wegen ihres Eindrucksgehaltes stärker sind als andere – wer oder was wertet hier, und wie?

Ein Herausgehen aus diesem Oberbegriff "Urlaub" erfordert eine gewisse Anstrengung: selbsttätig-motorisch würde der Geist (wenn er von außen nicht gestört wird) innerhalb dieser Rubrik bleiben und spielerisch-assoziativ über analoge "Anklänge" "vom hundertsten ins tausendste" sich fortspinnen. Diese "Anstrengung" ist notwendig, um die Belegung des Bewußtseinsspiegels zu überwinden – und gibt damit schon hier einen Fingerzeig für das oben Gesagte ab: diese "Selbstrotation" des Geistes weist darauf hin, daß er, um in Tätigkeit versetzt zu werden, immer eines Anstoßes von "Außen", von einem Anderen her bedarf. Daran läßt sich seine Werkzeug-Natur erkennen: er muß zuerst entweder durch die Sinne oder durch den "Willen" auf ein bestimmtes Beschäftigungsziel verwiesen werden. Offenbar gerade wegen dieser zweifachen Anstoß-Möglichkeit verfügt unser Geist über zwei gleichzeitige Simulationsebenen, wenn auch nur jeweils einer die Aufmerksamkeit (was ist das?) zugewandt werden kann. Auf der nach außen gerichteten Bewußtseinsebene stehen sämtliche von den Sinnesorganen eingehenden Parameter parat, so daß wir uns sowohl durch willentliche Aufmerksamkeit auf bestimmte Signale konzentrieren können als auch ohne diese Konzentration im Falle eines ungewohnten, zur jeweiligen Befindlichkeit nicht gehörigen Signales gewarnt sind, um uns diesem zuzuwenden. Dabei hören und sehen wir alles um uns herum in einer Art Gesamteindruck – und damit eigentlich gar nichts: wir befinden uns in einem "Schwebezustand", welcher andrerseits wiederum dafür Voraussetzung ist, daß wir von innen her auf der Bewußtseinsplattform überhaupt tätig werden können. Dieses "Umschalten" der Aufmerksamkeit von den direkt eingehenden Sinneseindrücken auf die innere Vorstellungsebene läßt sich motorisch als Bewegung an den Augen empfinden. Wenn man sich selbst genau beobachtet, wird man feststellen, daß zur Verstärkung der inneren Vorstellungskraft ein Abschotten des Außen entweder durch völliges oder teilweises Schließen der Lider oder zumindest durch nach oben Stellen der Pupillen zu bemerken ist, wodurch der Impulsfluß des überragend starken Augensinnes abgestellt beziehungsweise zurückgedrängt wird. In diesem Schwebezustand läßt sich nunmehr mit dem "inneren Auge" agieren, indem man etwa ein vorgestelltes Bild im Zusammenhang mit dem Begriff "Urlaub" auf eine gerade sichtbare Fläche, z. B. einen Tisch projiziert. Dann wird man jeweils nur eines von beiden deutlich sehen, den Tisch oder die Bildvorstellung. Ebenso lassen sich auf dieser inneren Projektionsebene alle anderen Sinnesorgane in Tätigkeit setzen, um so gleichzeitig zur gewählten Bildvorstellung etwa dazugehörige Geräusche und Gerüche, Tast- und Geschmackseindrücke herbeizuziehen. An dieser Fähigkeit zur Erzeugung einer inneren Simulationsebene wird per se ipsum schlagend klar, daß es kausal notwendig zur Fiktion und Reflexion eines noch näher zu bestimmenden "Ich" kommen mußte: wenn ich als "Ich" es selbst bin, der diese Bilder in diesem "Ich" erzeugt, so benötige ich des weiteren einen Betrachter dieser Bilder, eine gesonderte Instanz, die den Erinnerungen des eigenen "Ich" gegenübersteht.

Nun soll versucht werden, die Rubrik "Urlaub" zu verlassen, dem inneren Schauen eine andere Richtung zu geben unter Freihaltung von jeder zu dieser Rubrik gehörigen Assoziation. Weiter soll keinerlei Mühe außer der des "Ausklinkens" angewandt werden, um so das nächste "Feld", das nun woher auch immer, jedenfalls ohne eigenes Zutun erscheinen soll, völlig "frei" wählen zu lassen. In diesem Fall wird sich ohne direkte Eigenwahl etwa die Rubrik Urteil einstellen. Dieser Begriff öffnet sich sofort wie eine Schublade, auf die zeitlich oder sachlich zugegriffen werden kann. Daß gerade dieser Begriff aufscheint, dürfte auf einer motorischen Assoziation beruhen: in der "Verabschiedung" des Begriffes Urlaub mußte der Begriff "Urlaub" dennoch quasi-motorisch artikuliert werden, weshalb die Anfangsbuchstaben und deren Anklang zu jenem anderen führten.

Jeder Begriff (so auch "Urlaub" und "Urteil") scheint im Gedächtnis auf mindestens fünffache Weise gespeichert zu sein (wenn er jedenfalls für die jeweilige Speicherungsart etwas hergibt): als Bild (Piktogramm), als geschriebenes Wort, als Hör-"Bild", als das in Bezug darauf Erlebte, als Abstraktum (was objektiv darüber aussagbar ist). Nehmen wir das Wort "Milch":

a) Zunächst könnten dabei zwei fast gleichzeitige Bilder aufscheinen: nämlich erstens Milchflasche/Milchtüte – wie Milch käuflich erworben werden kann -, und zweitens eine melkende Bäuerin mitsamt Kuheuter und in den Eimer spritzender Milch.

b) In etwa gleichrangig dazu, und in gewisser Weise "daneben" ist das Wort als geschriebenes parat.

c) Mit dem geschriebenen Wort wohl unlöslich verbunden scheint das Hörbild, insofern dieses motorisch zwar vorhanden ist (durch die fast unmerkliche Artikulation im Moment des Aufscheinen des Wortes), jedoch bei reiner Innenwarhnehmung "übergangen" wird. Diese drei Parameter gehören wohl näher zusammen als die weiteren Wahlmöglichkeiten, die von hier aus zur Verfügung stehen:

d) Es kann nun übergegangen werden auf die Reihe der in der Erinnerung gespeicherten spezifischen Erlebnisse mit "Milch". Dabei können völlig unerwartete Erlebnisse erinnert werden, etwa daß man peinlicherweise ein Glas Milch bei Tisch verschüttet hat oder ähnliches.

e) Weiterhin sind allgemeine Aussagen über Milch möglich, also etwa, daß sie weiß sei und dickflüssiger als Wasser, daß sie Vitamine und Eiweiß enthalte usf., sowie ein unbegrenztes Feld von Anwendungsmöglichkeiten. In Verbindung damit läßt sich dann auch der Geschmack auf einer "inneren Zunge" bewußt machen (wobei sich interessanterweise die Zunge mitbewegt) oder auch deren Geruch, was eine ebenso motorische Tätigkeit der Nase im Gefolge hat.

Was und wie gespeichert – und damit erinnert – wird, hängt von zweierlei ab: von uns selbst insofern, mit welchem Sinnesorgan wir die beste Kenntnis erhalten; das sind in der Regel die Augen. Es hängt aber auch von dem Gegenstand ab, nämlich von seinen für uns im doppelten Wortsinne herausragenden Seiten. Durch die Art und Weise der Sache selbst wird der Hauptsinn und die Hauptspeicherung ausgewählt dadurch, für welches Sinnesorgan sich die hauptsächliche Spezialität dieses Gegenstandes erschließt.

Der in dieser Untersuchung häufiger anzutreffende Verweis auf einen doppelten Wortsinn wie hier bei "herausragend" ist übrigens ein weiterer Beleg für den Zusammenhang und Wandel von der Rezeption zur Reflexion: dieser Wandel ist es, der den Begriffsgehalt vom Herausragenden des Gegenstandes in das Herausragende für uns veranlaßt. Offensichtlich findet in der Reflexion eine Bewertungsumkehr statt, in der wir uns das Wirkende des Gegenstandes aneignen, um damit den eigenen aktiven Bezug zu diesem Gegenstand zu bezeichnen.

Diese verschiedenen Speicherungsmöglichkeiten von a-e werden bei allen Menschen ähnlich sein, was jedenfalls den Zusammenhang von Wirkung der Dinge, Sinnesorganen und Gedächtnis anlangt. Darin ist der Augensinn und damit die bildliche Erinnerung dermaßen überwiegend, daß die Parameter der anderen Sinnesorgane im Verhältnis dazu eigentlich nur latent vorhanden sind und meist einer besonderen Tätigkeit des Hervorrufens bedürfen (es sei denn, die spezifische Wirkung eines Gegenstandes betreffe neben seinem Bild ein anderes Sinnesorgan). Im täglichen Leben wird die Reihenfolge der Wahrnehmung (abgesehen von a-c, welche wohl bei der Wiedererkennung immer kurz vorhanden sind) von der Situation abhängen: soll zum Beispiel die Frische der Milch geprüft werden, wird aus dem Gedächtnis der Geruch und Geschmack frischer Milch herbeigezogen und mit dem direkten Sinneseindruck verglichen.

Noch ein Wort zum obigen Schwebezustand: aus der ganz normalen täglichen Erfahrung etwa beim Spazierengehen ist eine Art "automatisches Wiedererkennen" abzuleiten, das keinen besonderen Akt der Aufmerksamkeit erfordert; es erscheint dem Augensinn alles Mögliche, was gerade auf die Netzhaut fällt, bekannt: dieses in das Sinnesorgan Auge Einfallende ist in einer darüber hinweggreifenden Wahrnehmung zumindest wiedererkennbar. Eine solch schwebende Haltung zwischen eigentlicher Wahrnehmung und Latenz ermöglicht es offenbar dem Bewußtsein, alles Nähere und Fernere, das potentiell auf den Leib des Individuums wirken könnte, im Blickfeld zu behalten und doch gleichzeitig auf ein Einzelnes aus diesem Feld sich konzentrieren zu können, dieses Einzelne durch ein Entgegenkommen der Erinnerung und Vergleichen bewußt identifizieren zu können. In dieser Schwebehaltung ist im Prinzip die oben genannte Doppeltheit zwischen innerem und äußeren Auge bereits vorpraktiziert und vorangelegt. Diese Schwebehaltung ist aber auch noch in einer anderen Weise Voraussetzung dafür, daß der Geist auf der Innenseite des Spiegels, losgelöst vom Außen, tätig zu werden vermag: der sich so Beschäftigende weiß gewohnheitsmäßig, welcher Grad an Grundaufmerksamkeit für seine jeweilige Umwelt genügt, um gegenüber deren Rückwirkungen auf sich selbst gesichert zu sein. Ist dieser Grad niedrig, so stehen ihm Zeit und Kapazität für die Innenbeschäftigung zur Verfügung. Die Innenbeschäftigung kann er aber nur dann frei wählen, wenn er die Eigenmotorik seines Bewußtseins nicht übersieht: womit der Mensch den Tag zubringt, und sei es auch nur "einfach so" (oder vielmehr: dann gerade) – diese alltäglichen Begebenheiten oder Selbstverpflichtungen werden sich selbsttätig in sein Bewußtsein einspiegeln, ihn mit Beschlag belegen. In selbstgewählten Bahnen wird man also nur dann denken können, wenn man die eigene Tätigkeit bereits in bestimmter Weise ausrichtet; denn diese beeinflußt zwangsläufig, was das Gedächtnis an Gedanken liefert. Um dies "positiv" mit einem Wort des Dominikus auszudrücken: am liebsten nur mit oder von Gott zu reden – d.h., nur die ständige Konzentration auf das Angemessene und Wichtige im Tageslauf führt von der Funktionalität des Bewußtseins her gesehen zur Einheit und Gerichtetheit des Selbst.

"Aufbau des Geistes"

Wohl verführt durch die Beobachtung des "Entgegenkommens" der Erinnerungen, weil ganz offenbar bei allen Sinneswahrnehmungen auf dem Bewußtseinsspiegel ein Zusammengesetztes erscheint, eine Mischung aus dem tatsächlichen Sinnessignal mit aus dem Gedächtnis stammenden zugehörigen Erinnerungsanteilen, meint Bergson eine "Immaterialität" der Erinnerung behaupten zu müssen (etwa in der Weise, daß die Erinnerung im Moment und durch das eingehende Sinnessignal erst entstehen soll, ansonsten in keiner Weise materiell vorhanden sei – daher der Begriff "Immaterialität"). Trotz der Richtigkeit dieser Beobachtung des Entgegenkommens wird hier die entgegengesetzte Meinung vertreten, denn die Aufrufbarkeit von Erinnerungen in beliebiger Weise und unabhängig vom Außen setzt im Gegenteil eine materielle Speicherung derselben voraus. Es kann unmöglich gedacht werden, daß diese – wie denn, durch welchen deus ex machina – quasi aus dem Nichts durch ein "Entgegenkommen" (dann wohl der "dritten Art") selbst erst "erzeugt" werden. Vielmehr muß diesem Erzeugen ein Vorhandenes zugrundeliegen, nämlich eine chemisch-elektrische Verschlüsselung von Erinnerungsgehalten in Form von Impulsmustern. Will sich (oder wollen wir selbst) eine Wahrnehmung, eine Empfindung oder ein Gedanke im Bewußtsein abbilden, muß hierzu ein chemisch-elektrischer Prozeß ablaufen, der diese Verschlüsselung in umgekehrter Reihenfolge wieder entschlüsselt. Die Impulskonstellation einer bestimmten Erinnerung wird niedergelegt durch eine neuronal-dendritische Vernetzung im entsprechenden Neuronalzentrum (Sinneszentren, vertikale Kombinationszentren – etwa Sprache selbst, neuronal-vertikale Kategorienrepräsentanzfelder). Wird diese Impulskonstellation aus dem Gedächtnis abgerufen, so durchläuft sie die "Verschlüsselungsstation" in umgekehrter Richtung als "Entschlüsselungsstation", d.h., durch diesen Umkehrvorgang wird auf dem Bewußtseinsspiegel der identische Sinnes-, Vorstellungs- oder Gedankeneindruck erzeugt, wie er einst im Gedächtnis abgelegt wurde. Erst durch dieses Entgegenkommen von Erinnerung und durch die Mischung von frischen und erinnerten Sinneseindrücken ist ein Verständnis des jeweils Gegenwärtigen überhaupt möglich. Denn Sinneseindrücke, welche als solche, d.h. ohne dies Entgegenkommen der Erinnerung, in unserem Bewußtsein erscheinen, sagen uns zunächst einmal gar nichts: wir wissen in diesem Falle nicht, was wir eigentlich wahrnehmen.

Die schubladenartige Ablage und Verschlüsselung von Oberbegriffen zu Unterbegriffen läßt sich gut daran zeigen, daß man mit dem eigenen Gedächtnis eine Art "Denkfix" spielen kann: wähle willkürlich einen Buchstaben, und zu diesem irgendeinen Begriff – schon steht dir ein weites Assoziationsfeld offen (s. oben Urlaub, Milch). Zu dem Begriff erscheint ein Piktogramm, das geschriebene und gehörte Wort – und dann "wartet" eine "offenstehende Schublade" darauf, was du aus ihr entnehmen willst, welchen Teil des Inhalts du durch eine ganz bestimmte Aufmerksamkeitshaltung entnehmen willst. Hieran sollte sich die Konstruktion unseres Gedächtnisses richtiggehend erspüren lassen: für einen ersten Zugriff enthält es Oberbegriffe, gut vergleichbar Karteireitern oben auf den Karteikarten. Will man jedoch Näheres wissen, muß man die Informationen der Karteikarte selbst zurate ziehen. Das Sich-Einstellen der Oberbegriffe verläuft entweder "von selbst", will sagen als Reaktion auf Innen-(Vegetativum, Instinkt, Emotio) beziehungsweise Außensignale (Sinnesorgane), oder durch rationale Selbstwahl (Verstandes- und Vernunft-Tätigkeit) oder durch "freie Assoziation" (etwa im Falle der "Gedankenlosigkeit"). Die wichtigsten Alternativen sind die Innen- und Außensignale, denn auf und aus diesem Grund entstand das Denken. Wie kann man sich dieses quasi-motorische (ohne bewußtes Zutun) Auftauchen von Oberbegriffen vorstellen? Ein bestimmter Sinnes- oder Innenreiz, etwa das Auftreffen der Lichtbrechung durch einen bekannten Gegenstand auf unsere Netzhaut wird als ein bestimmtes Impulsmusters ins Sehzentrum weitergegeben; dieser Impuls wird mit seinem Eintreffen im Sehzentrum gleichzeitig dem Bewußtseinsspiegel und dem Gedächtnis vermittelt, welches die "wichtigsten Inhalte" (das ist regelmäßig das für den Wahrnehmenden Vorspringende dieses Anblicks) anhand des übermittelten Impulsmusters vergleicht und dann entweder dem Bewußtsein durch Entgegenkommen mit dem als bekannt Erkannten zu Hilfe kommt oder das Gesehene als unbekannt meldet. Entsprechend dieser ersten Erkennung wird die notwendige Reaktion eingeleitet: bei direkter leiblicher Gefahr der Reflex in Form einer Sofortreaktion, welche motorisch-programmatisch (Instinkt) ohne Dazwischentreten des Ratio-Zentrums abläuft, oder ein emotionaler beziehungsweise rationaler Umgang mit dem Gesehenen, wenn die Situation "etwas angeht" und die entsprechende Zeit und Unbedrängtheit dafür vorhanden ist. Dann können zur Reaktion weitere Parameter aus dem Gedächtnis herangezogen beziehungsweise empirisch (Neu-Gier) mit einer neuen Situation umgegangen werden; oder man reagiert überhaupt nicht, weil das Gesehene nicht anrührt – dann sieht man eigentlich auch gar nichts, weil das Desinteresse die Zuwendung zu diesem Impulsmuster gar nicht erst bewußt werden läßt. In jeder Situation wendet uns somit unser Gedächtnis im Zusammenspiel mit den Sinnesorganen ständig alle ihm darin bekannten Impulse zu – jedoch nicht als "zwanghafte Bewußtheit", sondern als eine Zugriffsmöglichkeit (von den Reflexen einmal abgesehen; bei den Emotio-Zuwendungen wird die Automatik der Zuwendung von den intellektuellen Grenzwerten abhängen). Dies ist allein schon deshalb nötig, als unser Bewußtsein viel zu "klein" ist: wir sind gezwungen, uns auf ein Nacheinander der bewußten Wahrnehmung zu beschränken, und eo ipso auf eine Auswahl des Wesentlichen – nur ein göttliches Bewußtsein vermöchte alles gleichzeitig wahrzunehmen. Ist auf einen Sinnesimpuls kein Reflex nötig, so haben wir eine gewisse Wahlfreiheit, wir können uns gefühlsmäßig oder rational für eine bestimmte Reaktionshandlung entscheiden. Ob wir uns nach Gefühl oder mittels Ratio entscheiden, ist eine Veranlagungsfrage, und "Freiheit" wird je nach Entscheidungszentrum durch Emotio oder Ratio anders zu definieren sein. Diese Entscheidungsmöglichkeit bedeutet, daß hier die motorisch-reflexhafte Reaktion unterbrochen, gehemmt sein muß – Emotio und Ratio sind also zunächst Hemmungen der direkten Weitergabe eines Reaktionsimpulses an das Zentralnervensystem. Die Unterbrechung soll Zeit und Möglichkeit verschaffen, auf den eingegangenen Impuls "richtiger" zu reagieren, wozu weitere Parameter aus dem Gedächtnis nötig sind, d.h., jetzt müssen die entsprechenden Inhalte der Karteikarte beigezogen werden. Das Gedächtnis wird dann die direkt oder analog zu dem Impulsmuster passenden weiteren Informationen ins Bewußtsein einspiegeln. Dabei ist zu beachten, daß auch all jene näheren Informationen bei ihrer Abspeicherung schon bewertet wurden, so daß mit der Information immer auch Werturteile ins Bewußtsein transportiert werden. Hier tut sich dann der entscheidende Unterschied zwischen dem emotionalen und rationalen Typ Mensch auf: der erstere hatte schon bei der Abspeicherung der emotionalen Bewertung keine Wahl, so daß er nun auch bei der Wiedererkennung keine eigentliche Wahlfreiheit bei der zu vollziehenden Handlung hat, sondern seinem Vorurteil (Vor-Urteil) folgt. Der rationale Typ speichert zu einer Information verschiedene Bewertungen als mögliche und behält so die Handlungsfreiheit für den jeweiligen Entscheidungsmoment.

Im vorigen Fall erfolgte das Informationsangebot des Gedächtnisses auf ein durch Sinnessignal eingehendes Impulsmuster; wie nun aber beim "freien Denken"? Wird man auf der Innenseite des Bewußtseins tätig, wie holt man sich dann Inhalte aus den Karteikarten? Die Methoden des Abgreifens werden die nämlichen sein wie bei den Außensignalen, jedoch können sie frei eingesetzt werden. Dies will sagen: auf der Innenplattform des Bewußtseins müssen entsprechende "Fragen" (!) nachgebildet werden, wie sie die Sinnesreize an das Gedächtnis darstellen. Die Karteikarte ist wie im Lesegerät durch eine "Dauerspannung" – d.i. der hergestellte Bezug zum Karteireiter als Oberbegriff – fest eingestellt, so daß nun durch Impuls-Änderung in Form verschiedener Fragen die jeweils passenden Antwortimpulse beigezogen werden können. Sowohl der Frage- wie der Antwortimpuls durchlaufen dabei in gleicher Weise wie die Außensignale eine Ver- und Entschlüsselungsstelle – hierzu die folgende schematische Darstellung:

1 = Ver- u. Entschlüsselungsstation (Thalamus?)
2 = Karteireiter-Gedächtnis
3 = Karteikarten-Gedächtnis
4 = Bewußtseinsspiegel
a = Sinnesimpulse
b = Gedächtnisabfrage
c = "gemischte" Impulse zum Bewußtsein
d = Abspeicherung im Gedächtnis
Die Datierung dieses Textes ergibt sich aus der Erstellung
dieser Zeichnung, welche vor etwa 20 Jahren noch mit einem
Einfachst-Grafikprogramm auf einem Schneider CPC 6128 erstellt wurde.

Die Graphik soll das menschlichen Bewußtsein im Normalzustand darstellen: als ein aus allen beteiligten Sinnesorganen herrührender, zusammengesetzter Gesamteindruck, der durch elektrische Impulse (a) weitergegeben wird. Durch eine bereits in tierischer Zeit erworbene Abstraktion mittels der Sinnesorgane selbst (d.h. "Geeignetheit" und Anpassung der Wahrnehmungstätigkeit als solche an die Gegebenheiten des Außen: Lichtverhältnisse, Perspektive, Farbtrennung), sowie durch Bündelung (vor allem auf Grund des doppelten Vorhandenseins der wichtigsten Sinnesorgane und der daraus folgenden Räumlichkeit des Sehens, Hörens und Riechens) und Verschlüsselung der konkreten Signale zu einem signifikanten Impulsmuster (1; Thalamus?) wird der ansonsten unsere innere Wahrnehmungsfähigkeit übersteigende, weil aus viel zu viel gleichzeitigen Informationssignalen zusammengesetzte auf uns zuströmende Signal-Wirrwarr verkürzt und konkretisiert. Dieses Impulsmuster macht nur einen Anteil der Wahrnehmung aus, und zwar wohl nur den "unwichtigeren", den "Anlaß" derselben bildenden, denn der Hauptanteil dessen, was wir schließlich auf dem Bewußtseinsspiegel (4) wissend wahrnehmen, stammt aus dem Signalaustausch (b) zwischen Verschlüsselung (1) und Gedächtnis (2+3). Der tatsächliche Impuls (a) wird in unserem Bewußtsein erst dadurch aussagefähig, weil durch ein gleichzeitig stattfindendes Impulsabgreifen (b) im Gedächtnis (2) das zu diesem Impulsmuster (a) vorhandene gespeicherte Wissen im Bewußtsein zugemischt wird (Entgegenkommen der Erinnerung). Dabei wird im Gedächtnis vorerst nur der "obere" Teil (2), das Karteireiter-Gedächtnis, angesprochen, welches das für die handhabbare Wiedererkennung benötigte Wissen enthält. Abgesehen von den Fällen, in welchen eine Reflexhandlung vorprogrammiert ist (Instinkt/auch in Menschen noch vorhandene Altprogramme) wird sich zwischen Sinnesorganen, Verschlüsselung, Gedächtnis und Bewußtsein eine Standleitung aufbauen, eine solche Standleitung ist das menschliche Bewußtsein, macht es aus. Immer, wenn wir wach sind, befinden wir uns zwangsläufig in diesem Stadium: wir können unserem Bewußtsein gar nicht entgehen, es sei denn, wir schütten es durch Drogen zu. Diese Standleitung erlaubt es, jene über die Sinnesorgane eingehenden Impulse durch Aufmerksamkeit zu konzentrieren; einmal in der Form, daß wir einem bestimmten Sinnesorgan den Vorzug geben (also etwa besonders gut "hinhören" – was, wie jeder leicht an sich selbst beobachten kann, mit einer Einschränkung der anderen Sinnesorgane verbunden ist), oder aber auf die Weise, daß wir das eingehende Sinnesimpulsmuster (a) in seiner "Frequenz" beschränken, welche Beschränkung dann die eigentliche "Frage" an das Karteikarten-Gedächtnis (3) bildet, indem nun in dessen "Tiefe" gesucht wird, ob zu der eingeschränkten und "anfragenden Spannung" eine Entsprechung vorhanden ist.

Für diese menschliche Art des Wahrnehmens mag es erhellend sein, die jener vorausgehende Bewußtseinsart der Tiere zu betrachten (hier bezogen auf die uns vorhergehenden und bedingenden höheren Säuger): auch hier muß es schon eine Zusammenschaltung von Sinneseindrücken, Gedächtnis und einer Art "Bewußtsein" geben, welches hier allerdings anders, "dunkler" sein wird. Insonderheit wird das Gedächtnis nicht über die vertikale Kombinationsfähigkeit des Menschen verfügen (3), sondern lediglich über eine additiv-horizontale Konditionierung zwischen Wahrnehmung und Empfindung (2); und der eigentliche "Bewußtseinsspiegel", hier besser Empfindungsspiegel (Emotio-Potentiometer), also die eigentliche Selbstwahrnehmung des Tieres ist ausschließlich ein Empfinden. Ein "Wissen" von einer Wahrnehmung ist in keinem Falle vorhanden. Dies stimmt völlig damit überein, daß Tiere auf die Gegenwart und auf äußere Sinnessignale im flüchtigen Wiedererkennen von äußeren Bildern angewiesen sind, denn ihre Konditionierung, die Selbstwahrnehmung einer Empfindung, ist an das Erscheinen der Wahrnehmung im Außen gebunden und flieht mit der Erscheinung. Tiere sehen und hören also keineswegs wie wir Menschen, denn dazu fehlt ihnen die helle und feststellende Vorstellung des Verstandes. Vielmehr reagieren sie auf eine Empfindungslage, welche entweder durch ein Außensignal oder durch einen unter diesem Empfinden vorhandenen Instinkt – ein geöffnetes Programm (wie Hunger, Sexualtrieb), das sich als "defizitär" und somit "negativ" ins Emotio-Potentiometer einspiegelt – sich "einpegelt" und damit das Tier in Aktivität versetzt. Wie aber hier bei den Tieren scheint auch bei uns noch jeder "Oberbegriff" (2) durch und bei seiner Erfahrung, bei seinem "Einlernen" eine oberste, auf schnellen Zugriff "berechnete" Kennung zu erhalten, ob und welche Relation er zu dem Einzelwesen hat, was durch eben dieses Vor-Urteil ein sofortiges Verhalten zu einer auftretenden Situation, wenn sie bekannt beziehungsweise gespeichert ist, ermöglicht. Diese Vorurteile sind im Laufe unserer individuellen Entwicklung zunächst zwangsläufig emotionaler Natur. Ebenso sind selbst bei uns noch Instinktprogramme auf diesem "oberen Ring" des Wiedererkennens (2) eingekoppelt; daher denn unser automatisch-reflexhaftes Zurückschrecken vor gefährlichen Gegenständen direkt im Moment der Wahrnehmung, selbst wenn uns das Wahrgenommene in Wirklichkeit in diesem Moment gar nicht gefährlich werden könnte. Diese "automatische Gefahrenkennung" (wohl ein einseitig geöffneter Instinkt) löst sofort den motorischen Reflex aus, der sich nur bedingt durch dazwischentretende Erfahrung außer kraft setzen läßt.

Das Tier wird in seinem Empfindungsspiegel zweierlei erfahren: entweder sich selbst durch einen "Auffälligkeitsakt" kenntlich machende Dinge in der Außenwelt, welche durch Entgegenkommen aus dem Karteireiter-Gedächtnis (2) eine entsprechende Empfindung aufrufen und dadurch das zugehörige Reaktionsprogramm auslösen; oder aber Empfindungen, die im Tier selbst vegetativ-hormonell erzeugt werden und sich als Instinkt in das Empfinden einspiegeln und dadurch von innen her die Tätigkeit anspannen, und so die Suche nach dem zukonditionierten "Objekt" einleiten. Auch hieran wird wieder deutlich, daß nicht nur unser Geist, sondern auch schon die Empfindung des Tieres zunächst eine Hemmung ist, welche zwischen die reflexhaften und programmierten Instinktreaktionen, und somit zwischen das motorische Zentrum Stammhirn und dessen Reflexauslösung ein- beziehungsweise darübergeschaltet ist. Mit diesem Empfinden vermag das Tier hinsichtlich der Intensität der Sinnessignale alternative Entscheidungen zu treffen, indem der Emotio-Spiegel als Bewertungszentrum alle jene Umstände konditioniert, für welches die Wahrnehmung des betreffenden Tieres geöffnet und eo ipso ein Gedächtnis vorhanden ist. Ist das Tier hier auf eine wartende Haltung festgelegt, ob ein äußeres Ereignis oder ein vegetativ-programmiertes Empfinden es zur Aktion (in Wirklichkeit also zu einer Reaktion) veranlaßt, so zeichnet den menschlichen Geist vor allem die Fähigkeit zur aktiven Wahrnehmung aus. Was ist das?

Gehen wir vom Status der Affen aus, von welchen wir die Schimpansen als unsere "nächsten Verwandten" im Tierreich ansehen, deren Erbgut um weniger als 2 % von dem des Menschen abweicht, und die daher selbst schon einen Höhepunkt innerhalb der tierischen, also empfindenden Entwicklung vorstellen. Der Weg dieser Empfindungsfähigkeit dürfte so verlaufen sein, daß sich wechselwirksam Wahrnehmungsfähigkeit (Sinnesorgane), Speicherfähigkeit (Zunahme des Gedächtnisses) und Tradierfähigkeit (soziale Interaktion) quantitativ immer höher hinaufgetrieben haben, daß also immer mehr vordem ein- beziehungsweise zweiseitig geschlossene Programme für die Empfindung geöffnet wurden, sowie daß ganz neue "Erkenntnisse" der Umwelt in die Lebewesen "hineinkamen", indem sie neue "Kausalitäten" auszunutzen verstanden. Dies führt zu einer Vielzahl von Bewertungen (Lustzentrum/Emotio) und Speicherungen im additiven Karteireiter-Gedächtnis, durch welche Potenzierung bei der notwendigen Wiedererkennung die Gefahr des Irrtums beziehungsweise der Ineffizienz eintritt. Je mehr einzelne oder zusammenhängende Reaktionen samt zugehöriger Impulsmuster "gelernt" worden sind, desto genauer müssen sie unterschieden werden; je mehr additive Speicherungen nacheinander beim Wiedererkennen "abgefragt" werden müssen, desto länger dauert die bezweckte motorische Reaktion. Somit gilt: je differenzierter eine Speicherung wiedererkannt werden muß, desto mehr Einzelheiten müssen der eigentlichen Grundinformation angehängt werden; dadurch könnte es schließlich zu einer Überlastung der vorhandenen additiven Neuronenebene kommen. Denn bei dieser Art von differenzierter "Repräsentanz" müssen bereits quasi unmerklich (will sagen, ohne daß dies im eigentlichen von den Einzelwesen ausgenutzt werden kann) statische Umstände einer Grundinformation ins Gedächtnis mitaufgenommen werden, was im Verhältnis zu den Impulsmustern des Instinkts eine erhebliche und ständig zunehmende Menge an Speicherneuronen erfordert. Und: es müssen schon hier die Speicherzellen geradezu nebenbei eine Möglichkeit gefunden haben, statische Bilder in Informationsimpulse umzuwandeln und diese mitzuspeichern. Mit dieser Erkenntnis wird klar, was vor allem Geist auch ist: eine Abtrennung statischer Umstände von der Grundinformation, eine nochmalige Zerlegung der Information. Um der Informationsflut, die sich entlang der oben bezeichneten Wechselwirkung hochschaukelt, Herr zu werden, bedient sich Mutter Natur eines neuen Verfahrens nach altem Muster, einer weiteren Vertikalisierung des Gedächtnisses, wie im Prinzip auch schon im Verhältnis von Instinkt zu Emotio, vom Karteireiter- zum Karteikarten-Gedächtnis. Die horizontal-additive Konditionierung wird umgewandelt in eine vertikale Zuordnung und Trennung von Oberbegriff und Informationsgehalt. Auch von der motorischen Seite her ist ein "neues System" quasi zu fordern, da bei einer zunehmenden Speicherung ausschließlich in einem Karteireiter-Gedächtnis die Reaktionszeiten zu lange werden möchten, und zunächst im tierischen Bereich doch alles auf eine schnelle Reaktionsfähigkeit ankommt. Somit könnten vielseitig aufgefächerte "Interessen" (geöffnete Instinkte) und die Notwendigkeit, schnell zu reagieren, ein neues Wahlsystem begünstigen: daß die nacheinander erfolgende Auswahl durch Abgreifen der horizontal-additiv gespeicherten Kennungen/Impulsmuster ergänzt wird durch ein vertikales System, so daß sowohl die Trennung von statischen und Reaktionsimpulsen als auch die Beschleunigung der Zugriffszeit völlig zusammengehen. Die eine schnelle Reaktion ermöglichenden Piktogramme verbleiben im "oberen" Karteireiter-Gedächtnis, die zugehörigen Einzelheiten werden abgetrennt und füllen im Wege einer weiteren Rezeption das Karteikarten-Gedächtnis.

Hand in Hand mit dieser Trennung von Ober-"Begriff" und Informationsgehalt muß eine neue Art Aufmerksamkeit möglich werden. Im Gegensatz zur reflexhaften Reaktion des Instinkts wie auch zur reflexartigen Reaktion der Emotio bedarf es nun einer gesonderten Konzentration, um jene vertikal unter/über den Piktogrammen fixierten Einzelheiten herbeizuziehen. Dies wird zunächst nur möglich sein bei Sinnesreizen/Oberbegriffen, welche keine direkte Gefahr signalisieren, aber anderweitig für das Einzelwesen von Interesse sind: das innere Auge entsteht. Diese Beobachtung wird dadurch bestätigt, daß wir, je mehr wir von den Dingen wissen wollen, uns umso mehr aus der Gegenwart und Tätigkeit zurückziehen müssen, damit uns diese Dinge etwas "erzählen" können, indem wir unsere Wahrnehmung mit demjenigen auffüllen, was zu einem gegebenen Ding an direkter oder analoger Information gespeichert ist. Dieses "innere Auge" scheint eine direkte Ableitung der bereits tierischen Fähigkeit zur Gesichtsfeldänderung zu sein: wo das Tier in "motorischer Unrast" (also getrieben von seiner Empfindungslage/negativer oder positiver Pegel des Lustzentrums) das jeweils "Passende" in der Umwelt sucht, gerade hierin seine eigene Aktivität an den Tag legt, dort hat der Mensch diese Außenfähigkeit nach innen verlagert. Denken könnte man unter diesem Aspekt als die Aktivität des inneren Auges, als Gesichtsfeldänderungen im Innen bezeichnen: die Inhalte des vertikalen Gedächtnisses zu "besichtigen" und zu verknüpfen. Bewußtsein wäre somit eine späte Folge der Eigenaktivität des Lebens, Geist eine vertikale Potenz der Beweglichkeit, indem das zunächst durch die Abstraktion der Sinnesorgane und neuronale Speicherung statisch fixierte Außen auf dem inneren Bewußtseinsspiegel erneut in Bewegung gesetzt wird.

Erinnerung und Charakter

Man könnte mit Bergson geneigt sein, den menschlichen Charakter als Synthese seiner Erinnerungen aufzufassen – etwa in dem Sinne, daß der Mensch das ist, und nur sein kann, was er weiß, indem er die individuelle Art und Weise seines Seins mit bestimmten in seiner Erinnerung bestehenden Inhalten identifiziert; doch dieser Anschein trügt, diese Auffassung greift zu kurz:

In objektiver Hinsicht spricht dagegen, daß die menschlichen Erinnerungen weder zufällig noch ausschließlich von der Umwelt abhängig sind, sondern daß die Fakten sowie die Art der Erinnerung zum einen Teil von der leiblichen und sinnlichen Ausstattung des Individuums geprägt werden: ein in bestimmter Weise daseiender Leib bewirkt direkt proportional ganz bestimmte Erinnerungen. Denn dem schönen oder häßlichen, dem sehenden oder blinden, dem furchtsamen oder aufgeschlossenen Menschenkind wird sich die Umwelt nicht nur "intern" unterschiedlich darstellen, sondern auch diese Umwelt wird sich rein tatsächlich und äußerlich ganz anders verhalten. Daher ist in dieser Hinsicht zunächst der Leib für den Charakter ausschlaggebend, wenn dieser Charakter als Synthese der Erinnerung gedacht wird.

Aber auch auf der subjektiven Seite kann der Eingangsthese nicht zugestimmt werden, denn der Charakter ist abhängig von der Bewertung der Erinnerungen, nicht von den Erinnerungen an sich. Dieses Erfordernis übersieht Bergson jedoch, und das führt zu einem unerträglichen Materialismus, zu einer "Automatik der Individualisierung" und eigentlich zur Nicht-Verantwortung für den eigenen Charakter. Erinnerungen werden nicht "einfach" entlang des Umweltangebotes angehäuft, um dann daraus die Synthese zu sein, sondern bevor wir Erinnerungen in unserem Langzeitgedächtnis niederlegen, werden diese bewertet. Jedes Individuum setzt eine ganz bestimmte und nur ihm zugehörige Reihenfolge und Wichtigkeit seiner Erinnerungen fest. Seine Urteile und Vergleiche erfolgen nicht "im luftleeren Raum", sondern im und durch ein bereits vorher vorhandenes eigenes "Licht". Dazu wird und muß im Gehirn ein "Organ" vorhanden sein, und zwar auf allen drei Ebenen (Instinkt, Empfindung, Denken), welches außerhalb des Gedächtnisses steht, vielmehr dem Gedächtnis seine Inhalte vorbewertet zukommen läßt. Ja, ein Gedächtnis wäre ohne eine solche Vorbewertung der Erinnerungen gar nicht denkbar, da sonst in ihm keine Ordnung und kein Wiederfinden vorstellbar wäre. Dazu müssen die Erfahrungen aus der Außenwelt in die Gegensätze von nützlich und unnütz, gefährlich oder ungefährlich, gut und böse eingeteilt sein. Erst diese Prägung der Erinnerung durch ein inneres Zentrum macht somit neben der leiblichen Hardware den Charakter aus, nicht jedoch eine mathematische Durchschnittssynthese von Erinnerungen.

Weiter ist der Charakter abhängig von der Kraft, vom "Willen" und der Leidenschaft des Individuums: jeder Mensch ist ein wollendes Wesen, d.h., er strebt auf etwas hin; dieses "Etwas" ist ihm durch die Art seiner "Hardware" sowie die Erinnerungsbewertung gegeben. Die Art seines Strebens wird durch sein Maß an Kraft und Leidenschaft bestimmt, welcher Modus des Strebens sowohl auf das eigene Gedächtnis wie auch auf die Art des Bewertens zurückzuwirken vermag: im "Bewertungsorgan" vorhandene Bewertungsparameter können durch Eigentätigkeit des Individuums (insbesondere durch Reflexion) überwunden und ersetzt werden. Der Mensch ist insoweit in großem Maße zur Unabhängigkeit von Instinkt und Gefühl befähigt, wodurch im Veränderungsfalle eine Neuordnung seiner Erinnerungen bewirkt wird. Somit ist der Charakter des Menschen keine statische Synthese (contra Schopenhauer), sondern allenfalls eine Unterlage, die der Veränderung durch das innehabende Individuum zugänglich ist.

Wie aus allem früheren bereits ersichtlich, ist davon auszugehen, daß Erinnerungen verschlüsselte elektrische Impulse zugrundeliegen, die im Gedächtnis "chemisch" (d.h., durch dendritische Synapsenvernetzung mittels Rezeptorenanlagerung) gespeichert wurden. Im Gegensatz dazu meint Bergson, daß diese Erinnerungen immaterieller Natur seien und erst im Falle eines bestimmten Außen- beziehungsweise Innenreizes erstünden, durch das Interesse neu erzeugt würden, und daß letztlich auch das Gedächtnis immateriell sei. Er verfällt damit in den umgekehrten Irrtum wie jene, die in unserem Gehirn den Geist als etwas Materielles suchen (etwa Eccles), statt ihn als Fähigkeit einer Organisation auf materieller Basis zu begreifen. Letzteres will auch Bergson nicht sehen in seiner Gegnerschaft zur krude materialistischen Position und schüttet deshalb das Kind mit dem Bade aus. Denn die (auch von ihm noch richtig angenommene) ständig neue Erzeugung von Erinnerungen setzt einen materiellen Speicher voraus, in welchem die Impulse geradeso durch Verschaltung von Nervenzellen gespeichert sind, wie sie uns die Sinneszentren als elektrische Impulse liefern, so daß beim Durchlaufen des "Entschlüsselers" für das innere Auge auf dem Bewußtseinsspiegel das gleiche Bild wie bei der Erstwahrnehmung entsteht. Diese Neuerzeugung kann ohne materiellen Untergrund gar nicht gedacht werden, da man sonst zur Annahme eines "reinen Geistes" käme, eines wie auch immer gearteten "Über-Sinnlichen". Ohne Not würde damit dem untauglichen Versuch einer rein materialistischen Entzauberung unseres Geistes eine erneute Mystifikation entgegengesetzt; ohne Not deshalb, als wir das, was wir "Geist" im Sinne von Ratio und Bewußtsein nennen, als eine Funktion erfassen können, die wir nicht in und als Materie begreifen dürfen, sondern als ein Übergeordnetes: selbst die beste Kenntnis der zugrundeliegenden "Hardware" Gehirn wird uns nichts nützen (und schon gar nicht werden wir dort einen materiellen oder reinen Geist finden), wenn wir uns nicht um die "Software" in doppelter Hinsicht bemühen – einmal als das allgemeine, grundlegende Funktionsprogramm des Geistes als solches, zum andern als spezielles Programm innerhalb einer bestimmten individuellen Ausstattung. Hardware und Software gehören dabei zusammen wie Henne und Ei, sind aber nicht materialistisch erklärbar, sondern nur in ihrer lebendigen Funktion. Zwar ist Materie ohne Leben denkbar, nicht jedoch Leben ohne Materie. Leben nützt die Erregbarkeit und Aufnahmefähigkeit der Materie für fremde Energie aus; diese Fähigkeit ist die gleiche, warum Materie überhaupt zu entstehen vermochte: weil die Materiebausteine (Protonen, Neutronen, Elektronen sowie die eine Kategorie darunterstehenden Quarks) durch die ihnen innewohnende Energie zusammengehalten werden. Daraus ist abzuleiten: Materie und Energie sind Erscheinungsformen einer "Ursubstanz", sie sind von diesem "Grunde" her verwandt, sonst könnten sie nicht aufeinander wirken und wären nicht ineinander umwandelbar.

Was wir beim Menschen Geist nennen, ist nicht identisch mit dieser anfänglichen und der Materie innewaltenden Energie, sondern nur vorstellbar als Nutzung dieser Energie auf materieller, durch eben diese Energie aufgebauter Grundlage. Es waltet hier kein mystischer uranfänglicher Weltgeist, sondern die Interaktion von Materie und Energie führt zur Höherorganisation, als deren synthetisches Produkt der Geist erscheint. Dieser setzt verschiedene Fähigkeiten, Organe und Zentren bereits voraus, die, noch ohne Geist zu sein, bereits auf tierischer Ebene entwickelt wurden – also Wahrnehmungsorgane und -zentren, Gedächtnis und Empfindungsbewußtsein. Das Neue an unserem Geist ist "nur" die Helligkeit des Spiegels, die wissende Bewußtheit, herbeigeführt durch eine vertikale Öffnung des Gedächtnisses und die feststellende Kombination von Wort und Bild, welche es erlaubt, die Aktivität auf jenem inneren Spiegel zu verlegen und auf ihm das reale Leben vorwegnehmend zu spielen. Welche Gesichtspunkte könnten Bergson überhaupt zu einer so abwegigen Annahme wie der Immaterialität der Erinnerung geführt haben?

1. Dafür könnte zunächst sprechen, daß unsere Erinnerungen eigentlich gar nicht da sind (in dem Sinne, daß wir sie ja nicht alle zugleich parat haben), sondern immer erst durch ein Anderes, ein Interesse oder Motiv aufgerufen werden. Sie "ruhen" offenbar "irgendwo", sie sind "unbewußt", "unterbewußt". Womit wir bei jenem Begriff angelangt sind, mit dem viel mystischer Unsinn getrieben worden zu sein scheint, denn man meinte, ein zeitliches Nichtvorhandensein (eines in Wirklichkeit nur inaktiven Gehaltes) zu einem gesonderten Reservoir ausbauen zu sollen (Freud). Deshalb nahm Bergson offenbar in Gegnerschaft hierzu lieber eine vollständige Immaterialität an und schoß übers Ziel hinaus. Das Unbewußte und das Unterbewußte unterscheiden sich wie folgt:

a) Das Unbewußte ist dasjenige, was sich dem Bewußtsein wegen eines fehlenden Bezuges/Reizes im Moment nicht darbietet, aber potentiell durch vegetative und emotionale Signale, äußere Ereignisse oder denkende Tätigkeit aufgerufen werden kann.

b) Hingegen bezeichnet der Begriff "Unterbewußtsein", wenn man denn überhaupt von ihm Gebrauch machen will, zwar materiell-neuronal abgespeicherte, aber nicht aufrufbare Erinnerungen; der freie Zugriff auf das Gedächtnis ist hier blockiert, und zwar wohl in der Weise, daß das Steuerzentrum (in Form der Emotio) bereits bei der Abspeicherung eine Kennung mitgibt, daß diese Erinnerung nicht auftauchen soll, weil diese Erinnerung die rationale Bewältigung beziehungsweise emotionale Belastbarkeit (den negativen Pegelstand) des Lustzentrums übersteigt. Ein anderes Wort dafür ist "Verdrängung"; Verdrängen ist diejenige unfreiwillige Tätigkeit, mit der eine die Verarbeitungsfähigkeit übersteigende Erinnerung ins sogenannte Unterbewußte verlagert wird. Weder das Unbewußte noch das Unterbewußte lassen demnach den Schluß auf eine Immaterialität des Gedächtnisses zu, sondern ganz im Gegenteil stützen sie die materiell-neuronale Speicherung, insofern in Wirklichkeit in beiden Fällen die Erinnerung neuronal vorhanden ist, aber jeweils die Verbindung zum Bewußtsein momentan oder durch Blockierung nicht gegeben ist.

2. Als weiteres Argument führt Bergson das willentlich ungesteuerte Auftauchen von Erinnerungen und das Sich-Vermischen derselben mit den sensorischen Impulsen an. Scheint diese Beobachtung zunächst eher auf eine Immaterialität hinzudeuten, so ist bei näherem Hinsehen gerade auch hier Materialität der Speicherung notwendige Voraussetzung. Nicht nur käme man sonst zu dem Ergebnis, daß das Entgegenkommen der Erinnerung aus dem Nichts oder einem wie auch immer gearteteten "reinen Geist" zu erfolgen hätte; viel mehr noch sprechen vor allem die Folgen von partiellen Hirnverletzungen und daraus folgender Gedächtnisverlust dafür, daß die Erinnerung einen materiellen Speicher beziehungsweise eine entsprechende Zuleitung zum Bewußtsein voraussetzt. Weiter stützt die beobachtbare Mechanik der Konditionierung bei Tieren (daß also auf ein bestimmtes Sinnessignal automatisch immer die gleiche Reaktion erfolgt) wie auch die beliebige und willentliche Wiederholbarkeit von Vorstellungen mit dem inneren Auge die Auffassung, daß es sich um materielle "Einritzungen" handelt.

3. Auch jene im Ansatz durchaus richtige These, daß in unserem Bewußtsein nur das "Interessierende" erscheine, und daß es dies Interesse sei, welches unsere Erinnerung "erzeuge", beweist nichts für, sondern alles gegen die Immaterialität. Natürlich ist es das Motiv und dessen Bewertung, die jeder Speicherung emotional oder rational beigegeben sein muß und die Art der Erinnerung ausmacht – aber auch hier weist diese bereits vorgefundene Bewertung (das Vor-Urteil) darauf, daß diese "Interessen"-Konditionerung ebenfalls materiell-hormonell vorliegt. Für die Materialität spricht weiter, daß einem, wie jedermann aus eigener Erfahrung weiß, selbst in den gefährlichsten Lagen die dümmsten Gedanken kommen können, beziehungsweise daß man durch den Willen in der Lage ist, trotzdem an völlig andere Dinge zu denken. Der Wille des Menschen vermag sich demnach in diese Verbindung Interesse-Erinnerung einzuschieben, was jedoch bei der Behauptung eines immateriellen Gedächtnisses unmöglich wäre, da jenes gar nichts anderes zeigen könnte als ausschließlich die interessierende Seite, welche einem eingehenden Sinnessignal entspricht. Die Alterierfähigkeit unserer Ratio ist überhaupt nur auf materieller Grundlage denkbar – denn woher sollte bloßes Denken sich seine Inhalte besorgen? Wie etwa soll man sich eigentlich Lernen vorstellen, wie das Vergessen, wenn sich dies alles in einer imaginären Immaterialität abspielen soll?

Kein Wunder, aber bedauerlich ist auch, daß bei einer solchen Annahme der ganze Bereich der Art des Wiederfindens einer bestimmten Erinnerung außen vor bleibt: angeblich sorgt ja das Interesse dafür, aber wie macht es das? Hierzu muß entgegen der Annahme Bergsons neben dem Gedächtnis eine beurteilende Institution dasein, die das zunächst vollständig leere Vorstellungs- und Ratio-Gedächtnis des Menschen erst einmal anfüllt. Diese Notwendigkeit der inneren Bewertung ist ebenso bei den Tieren gegeben, soweit es sich um offene Konditionierungen handelt: in beiden Fällen (beim Menschen im Kindesalter) wird von einem programmierenden emotionalen Zentrum aus eine bestimmte Erfahrung mit einer bestimmten Bewertung verbunden. Beim Menschen tritt die bewußte Wahrnehmung der Empfindungen hinzu, die durch verfeinerte Wahrnehmung auf dem Bewußtseinsspiegel nuanciert werden, so daß dadurch die Abbreviatur der menschlichen Gefühle entsteht.

Sinnesorgane und Abstraktion

Schon unsere Sinnesorgane selbst sind so eingerichtet, daß sie als solche, durch ihre Funktion, abstrahieren. Jedes einzelne Sinnesorgan nimmt eine bestimmte Bandbreite von Wirkungen aus dem Außerhalb des Individuums auf. Dies aber nicht in einer direkten Weise, also Einzelimpuls um Einzelimpuls durch die jeweilige Sinneszelle, sondern vielmehr sind bereits die Sinneszellen selbst in sich spezialisiert und geben auftreffende Impulse gebündelt weiter. So zerlegt etwa das Auge die Lichtwellen in Farben, indem bestimmte "Stäbchen" für einen bestimmten Wellenbereich zuständig sind. Einen bestimmten Geruch identifizieren wir nicht anhand einzelner Gasatome, sondern mittels eines zusammengesetzten Stromes derselben. Der Tastsinn spürt den Widerstand fester Körper als etwas Einheitliches, Ganzes, obwohl doch nur die Kräfte der zusammengebundenen Atome entgegenwirken (und manche Teilchen-Strahlen jene Atomverbände durchdringen können, also keinen Widerstand finden).

Diese auf uns berechneten, weil für uns notwendigen und wichtigen Erfahrungen unserer Sinne mit der Materie geben dieser Materie erst ihre Eigenschaften, an welchen wir die Dinge unterscheiden. Unsere Erfahrungen stammen aus der Wirkung der Dinge – sind doch unsere Sinne eben deshalb, wie sie sind, weil die Dinge sind, wie sie sind. Die "Konstruktion" unserer Sinnesorgane stammt aus dem Tierreich; im Verhältnis zum Affen ist an der Weise und Bandbreite der Funktion der einzelnen Sinne keinerlei ins Gewicht fallender Unterschied zu bemerken. Wir unterscheiden uns nicht durch die Funktion, sondern durch die Interpretation der Sinnesimpulse. Allerdings haben wir es durch eben diese Interpretationsfähigkeit der Ratio dahin gebracht, unseren Sinnen technische Hilfsmittel zu verschaffen, mit welchen wir uns Wirkungen der Dinge zugänglich machen, welche außerhalb der natürlichen Bandbreite unserer Sinnesorgane liegen. Zur Interpretation sind wir gezwungen, die Wirkungen eines Dinges, welche tatsächlich ein Gesamt ausmachen, entsprechend der Aufnahmefähigkeit unserer Einzelsinne zu zerlegen. Diese Notwendigkeit der theoretischen Interpretation gilt noch mehr für diejenigen Wirkungen der Materie, für welche wir keine direkte Sinne haben, oder für welche sie zu grob oder zu fein sind, was also außerhalb ihrer Bandbreite liegt. In der Reaktion auf die Wirkungen der Materie haben sich die einzelnen Sinnesorgane im Zusammenspiel mit den Sinneszentren bereits im Tierreich spezialisiert: Art und Intensität von Impulsströmen werden zerlegt und typisiert, wobei ihnen durch das Emotio-Potentiometer "Empfindung" mitgegeben wird.

Eine weitere Abstraktion führt unsere Ratio durch, indem wir aus einem fließenden Impulsstrom (etwa aus den vielen Lichtwellen, welche auf das Auge auftreffen) die interessierenden und vorspringenden "Bündel" herausgreifen und als typisch für ein bestimmtes Ding feststellen; so wird aus einem fließenden Gesamtnexus des Werdens das getrennte Sosein der Dinge. Für das Verständnis der Wirkung der Einzeldinge sowie der Wirkungszusammenhänge der Dinge untereinander muß unser Intellekt diese untereinander und in sich selbst spezialisierten Sinneswahrnehmungen wiederum zu einem Ganzen zusammensetzen. Bedingt durch diese Funktionsweise unseres Geistes gelangen wir jedoch immer nur zu einer Aufzählung der Eigenschaften von Materie, nie jedoch zu einer wirklichen und konkret-identischen Gesamtschau derselben. Aus der Komplexität dieses Weges vom Sinnesimpuls zur Wahrnehmung, aus der Vielfältigkeit der aufeinander geschichteten Interpretationssysteme Sinnesorgane, Sinneszentren, Instinkt, Emotio und Ratio sowie der Wechselwirkung zwischen Sinneszentren und Interpretation läßt sich entnehmen, daß wir eigentlich gar nicht sehen, was wir sehen. Was unsere Sinnesorgane denn wirklich aufnehmen, wissen wir überhaupt nicht, sondern wir interpretieren.

Die Verstandeskategorie

Nach der hiesigen Nomenklatur ist der Verstand der Vorzustand der Vernunft, welche eine vertikale Hemmung und Reflexion des Verstandes ist – so muß zunächst einmal der Nachvollzug versucht werden, wie der Mensch im Stadium des Verstandes wohl zu denken sei, um von da aus etwa den Wandel des Bewußtseins durch und im Medium der Vernunft zu verstehen. Wie können wir uns einen im Sinne von Vernunft nicht-reflektierten Typus Mensch vorstellen? Gibt es ihn nicht in einem gewissen Sinne noch heute, wenn man davon absieht, daß er, soweit er von reflexiven Maximen bestimmt wird, jene nur zwangsläufig gelernt, aber nicht existentiell angeeignet hat? Daß er also Vernunft wohl partiell aus der Tradition entnimmt und anwendet, aber nicht eigentlich und selbständig hat? Ein solcher Typus wird sein bewußtes Leben immer in einem direkten Zusammenhang mit seinen Sinnen haben: er agiert und reagiert im Äußeren, welches für ihn die einzige Realität darstellt. Selbst noch das Göttliche wird hier immer im Äußeren als Gegenüber, und sei es im unbegreiflichen Irgendwo, fixiert – etwa im Olymp. Der Unterschied zum Tier besteht hauptsächlich darin, daß durch den Verstand als vertikal-kombinierende Reflexion der Emotio eine innerlich festgestellte und helle Vorstellung der Sinneseindrücke vorhanden ist – nicht als reines Empfindungsbewußtsein, welches auch schon Tieren zugeschrieben werden muß, sondern als bildhaftes und gewußtes Vorstellen, welches einer eigenen Speicherung fähig ist. Andrerseits fehlt aber noch die Fähigkeit, auf diesem inneren vorstellenden Bewußtseinsspiegel alterieren zu können sowie eigenständig und aktiv in die Emotio-Bewertungen und damit die Motive des Handlungsablaufes hineinzukommen. Vielmehr bewegen die sinnlich-emotionalen Motive diesen Typus direkt, das verstandesmäßige Vorstellen steht völlig im Dienste der Emotio, welche für das Individuum urteilt. Der Großteil der menschlichen Gefühle (im Gegensatz zur Empfindung – welches der terminus technicus für die vormenschliche Emotio-Bewegung ist) wird bereits in diesem Stadium ausgebildet; sind Gefühle doch nichts anderes als in der verstandesmäßigen Vorstellung auftauchende Empfindungen/Bewertungen, welche den Sinneseindrücken von der Emotio zugeordnet werden. Da diese Bewertungen nunmehr wissend im neuen Gedächtnis des Verstandes mitgespeichert werden, müssen sie vom Verstand be-griffen werden:

1. Die aus dem Tierreich stammenden Grundempfindungen werden verstanden müssen; dies bedeutet, daß jene benannt werden, wobei alle Beteiligten mit dem Namen einen gleichartigen Gefühlsgehalt verbinden. Dabei fällt auf, daß hier eigentlich ein Unsagbares mit einem Namen belegt wird, denn wer vermöchte selbst bei den Grundempfindungen wie Hunger, Durst oder Schmerz den tatsächlich erlebten Gehalt eines Gefühls anzugeben? Wir wissen immer nur über eine Art emotionalen Nachvollzug, was uns ein Mitmensch kundgeben will, wenn er über seine Gefühle spricht.

2. Die Grundempfindungen werden aufgespalten und verfeinert, da sie durch die nunmehrige Vertikalisierung von Verstand und Gedächtnis einer potenzierten Vielzahl von zu speichernden Wahrnehmungen als Bewertungen zugeordnet werden, wodurch erst die eigentlich menschlichen Gefühle in ihren Schattierungen entstehen. In diesem Stadium ist der Mensch noch direkt abhängig von seiner Emotio, womit gut zusammengeht, daß er in diesem Entwicklungszeitpunkt auch noch gar kein eigentliches Ich hat! Wir-Bewußtsein, die Gruppe und Stammestradition regeln und entscheiden alles. Ein wirkliches Ich vermag erst die Reflexion des Verstandes mit der rational-kausalen Fiktion des Ich zu liefern. Der Typ der Rezeption des Verstandes ist für alle wesentlichen Vorgänge auf seine Emotio und deren Ausprägung durch die Stammestradition angewiesen. Fragte man ihn, woher er sein Wissen davon nähme, was er in welcher Situation auch immer zu tun habe, so würde er antworten, wenn er könnte, daß er das, soweit es sich nicht um äußerlich-gelernte Tätigkeiten handelt, "von selbst" wisse. Übersteigt jedoch eine Wahrnehmung das Reaktions- und Fassungsvermögen, so wird er zunächst den Rat "wissenderer" Stammesgenossen suchen; kann innerhalb der gesamten Gemeinschaft keine Antwort gefunden werden, stößt man auf die Grenze zum Unerklärlichen. So wird schon früh in der menschlichen Entwicklungsgeschichte das Gefühl des "Ausgeliefertseins" aufgetreten sein: d.i. diejenige Bewertung der Wahrnehmung, daß unerklärliche Mächte auf das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft einwirken – der Ansatzpunkt zunächst für Magie und dann Religion, welches beide Versuche sind, sich mit diesen unerklärlichen Mächten ins Benehmen zu setzen. Diese magische beziehungsweise religiöse Bewertung wird vom Lustzentrum analog zu den anderen Kennungen des Ausgeliefertseins gebildet werden, jedoch maximal: es wird im Bewußtsein ein Tremendum, ein Gebanntsein, die eigene Nichtswertigkeit diesen Mächten gegenüber erscheinen. Da die Ausgeliefertheit selbst nach wie vor unerklärlich bleibt, wird letztlich auch der eigentliche Gehalt dieser Bewertung unerklärlich bleiben – dieses Gefühl ist in seinem Kern nur erlebbar, nicht beschreibbar. Was sich im normal zu durchlebenden Bereich als Furcht meldet (um eine entsprechende Situation zu meistern), erscheint in diesem Fall im doppelten Sinne als Ohn-Macht. Dieser Begriff bezeichnet einerseits das verstandesmäßig erkannte und emotional bewertete eigene Unvermögen einem solchen Geschehen gegenüber, jedoch auch die körperliche Schockreaktion. Es scheint aufschlußreich zu sein, daß bei zunehmender (meist rückwirkender) Rationalität in der Breite jene früher doch so häufig geschilderten Anfälle von Ohnmacht heute kaum mehr beobachtet werden können, von Unfallschocks einmal abgesehen.

In diesem Gefühl des Tremendum steckt bereits auch der Keim zu seinem Gegenteil, zur Ekstase: sie ist die Konsequenz aus dem Ausgeliefertsein, wenn der Ausgelieferte sich zu diesem Ausgeliefertsein bekennt, es annimmt – so vermag er das Auslöschen aller anderen Gefühle einschließlich des Tremendum zu erleben. Die gefühlsmäßige Konzentration in der Hingabe schlägt um in Ekstase, das Tremendum wird überwunden durch die Vereinigung mit dem Numinosen. Dieser Vorgang ist auf der emotionalen Stufe derselbe wie auf der geistigen Stufe: die höchste Befreiung setzt völlige Unfreiheit und deren Akzeption, die berühmte "Vernichtung des Ich" voraus, woraus die eigentliche Freiheit des Ich entspringt. Diese in der Hingabe an das Tremendum erlebte Befreiung wird vom Lustzentrum nunmehr mit dem anderen Extrem der Gefühlsskala bewertet: höchste, rauschhafte Lust, ein Entzücken überwältigen den sich Hingebenden, analog gebildet zu den im Verstandesbewußtsein als Gefühl auftauchenden Emotionen, welche einen Zuwachs des Individuums anzeigen (positiver Pegel des Emotio-Potentiometers). Echter Zuwachs ist aber immer ein Stück Freiheit mehr von irgendetwas, höchster Zuwachs ist die völlige Freiheit, welche daher vom Kern des Individuums, ohne daß dies auf der Stufe der ersten Kategorie erklärt werden kann, in höchste Lust bis zur Raserei umschlägt – ist noch der triebbefreiende Dionysos im Spiel, so tanzen die Bacchantinnen.

Das Ich und sein Gefühl von sich

Woraus setzt sich eigentlich unsere Wahrnehmung von uns selbst, unser Ich-Gefühl zusammen? Sagen wir doch: ich fühle mich wohl, und nicht etwa: ich "weiß" oder gar ich "denke" mich wohl!?

Vorschnelle(nde) Antwort: dieses Ich-Gefühl wird der übergreifende Parameter über alle im Gesamtsteuerzentrum (die in jedem Menschen in verschiedener Weise geschichteten Zentren Instinkt, Emotio und Ratio als Verstand und Vernunft) anlangenden Einzelinformationen sein. Das bedeutet, daß alle Informationszentren einschließlich der mehr oder weniger bewußten Innenwahrnehmungen (vegetativer, hormoneller und Nahrungs-Status) daran beteiligt sind und zur Beurteilung mit herangezogen werden:

a) vegetative und instinktive Innensignale, welche via Emotio für den Verstand geöffnet sind, also von den Sinneswahrnehmungen unabhängige, sich über das Gefühl einspiegelnde, in Wirklichkeit aber aus dem Programmzentrum und darunter stammende Signale wie Hunger, Durst, Schmerz, Geschlechtstrieb, körperliche Befindlichkeit.

b) sensorische äußere Informationen: alles, was die Sinne über den "direkten Einbettungszustand" des eigenen Gesamtorganismus in seine jeweilige äußerliche Umwelt mitteilen.

c) bei den meisten Menschen das weitaus wichtigste an der Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung des Zustandes des eigenen Ich: Gefühle in Form der intellektuellen Grenzwerte – eine für apriorisch gehaltene "Wahrheit" wird als Ende der intellektuellen Einsicht durch Bewertung mit der Emotio gesetzt. Denn wie der Süchtige an der Nadel so hängt die überwiegende Mehrzahl der Menschen unlösbar an ihren emotionalen Einschätzungen und ist daher abhängig von der Befriedigung dieses Gefühlshaushalts (s. etwa den Begriffszwitter des "Selbstwertgefühls" und den daraus entspringenden "Minderwertigkeitskomplex"; oder das Phänomen der "Langeweile", die aus der Abhängigkeit des erstkategoriellen Typs von äußeren Reizen im Falle von deren Abwesenheit entspringt).

d) die rationale Bewertung des Ich durch das Ich schätzt die Stellung des Ich in seiner Umwelt nach rational-utilitaristischen oder ethischen Maßstäben ein. Sie ist der Versuch, das eigene Ich objektiv mit den anderen Ich's zu vergleichen, entweder unter dem (letztlich emotionalen) Blickwinkel Eigenbedeutung oder unter einem ideellen Wert.

Dies sind in etwa jene Parameter, die in einem Gesamt das mehr oder weniger bewußte Fühlen des Ich von sich selbst ausmachen – und hier scheiden sich auch die Geister. Denn entweder läßt sich sagen: ja, aus dieser individuellen Mischung der "Signallage" setzt sich das Gefühl meines Ich von sich selbst zusammen, das bin ich. Oder aber man versucht, diese subjektive Signallage von a-d bewußt in die Ratio zu bekommen in Form der Reflexion des Ich über das Ich (Ich-Ich), so daß man durch Reflexion die antreibende Rückbindung unterhalb des bewußten Ich (intellektuelle Grenzwerte) auflöst, um nicht ein Gefühl, sondern ein reflektiertes Bewußtsein des Ich-Ich vom Ich zu gewinnen.

Frage: woher nimmt aber dann eine Ratio, welche weder religiös eingebunden ist, noch Instinkt, Emotio und Ethik als selbständige Wertmaßstäbe gelten läßt, anderweitige Bewertungsmaßstäbe, aufgrund derer sie von und an sich ein "Gefühl", hier richtiger Bewußtsein hat? Daß sie richtig oder falsch, "gut oder böse" handele? Ist dies der Ort, um hier jenes geheimnisvolle "Gewissen" anzusetzen, das angeblich jedem Menschen "einwohnt"? Woraus der Mensch, wenn er nur wolle und darauf aufmerksam sei, sein "Eigenstes und Bestes" aus einem unerklärlichen Dunkel zu entnehmen habe? Hier nur soviel dazu: diese "dunkle Leerstelle" des Ich-Ich ("Gewissen") bleibt einerseits der Ratio auch in Form der reflexiven Vernunft unzugänglich, obwohl andrerseits gerade diese Ratio durchaus das Bewußtsein von sich selbst hat, daß sie nur Werkzeug ist. Man könnte sagen: hier "fühlt" die Ratio – leider steht hier zunächst kein anderer Begriff zu Gebote, um diese dunkle Innenwahrnehmung vom emotionalen Fühlen abzugrenzen, obwohl eine ganz andere Kategorie gemeint ist. Jedenfalls hat eine in rechter Weise reflektierende Ratio durchaus das Bewußtsein von sich selbst, daß sie sich zur Verfügung stellt. Fühlen ist auf jeder Kategorieebene eine Art Spannung, die uns unseren Zustand anzeigen soll, indem uns eine Differenz beziehungsweise Erfüllung zwischen einem Soll- und Ist-Zustand bewußt wird; der Soll-Zustand ist (zumindest zunächst – bei den meisten Menschen wohl immer) durch Genetik und Tradition in den Steuerzentren Instinkt, Emotio und Ratio vorgegeben. Daher läßt sich das normale und hauptsächliche Gefühl des Ich vom Ich definieren als die Zusammenfassung der Einzel-Interpretationen der Differenzen und Befriedigungen der jeweiligen "apriorischen" intellektuellen Grenzwerte. Hinzutritt das Fühlen der hier unterhalb gelegenen Selbstwahrnehmungen von für die Emotio geöffneten Programmen (Instinkte), welche, da sie mit dem Außen zu tun haben und zur Geltung kommen müssen, via Emotio in unser verstandesmäßiges Bewußtsein miteingespiegelt werden, und mit welchen uns Mutter Natur insbesondere zur Selbsterhaltung und Fortpflanzung veranlaßt. Das "Fühlen oberhalb", also jenseits von Emotio, jene Leerstelle des Ich-Ich, des Gewissens, nimmt sein Befinden aus einem die Ratio mittels jener Ratio transzendierenden Innen her, ohne einen rationalen Grund hierfür angeben zu können, woher und wohin, wie das Sollen und die Leidenschaft zu dieser Transzendenz in das Individuum gekommen sind.

Der Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl

Das Erleben von Lust bedeutet beim Tier etwas anderes als beim Menschen: wo ersteres direkt in der Empfindung, ja diese Empfindung selbst ist, von der Empfindung dieser Lust ohne Hemmungsmöglichkeit fortgezogen wird, dort ist diese allerdings ebenfalls vorhandene Empfindung beim Menschen überlagert durch das Gefühl der Lust. Letzteres ist die bewußte Erfahrung als verstandesmäßig-helle Selbstwahrnehmung dieser Eigenempfindung von Lust.

Geradeso verhält es sich mit tierischer Furcht und menschlicher Angst; sie sind die negative Kehrseite des Potentiometers dieser Empfindung beziehungsweise dieses Gefühls von Lust. Ist das Tier "unrettbar" seiner Furcht beziehungsweise dem Schrecken ausgeliefert und antwortet darauf reflexartig mit instinktiven beziehungsweise gelernten Verhaltensweisen, so kennt einerseits auch der Mensch noch diese beiden Verhaltensformen, die er als notwendig-sichernde Schutzmechanismen aus dem Tierreich mitgenommen hat. Doch ein Neues trat hinzu, die rein menschliche Angst als das "unbewußte Bewußtsein" des hellen Verstandes: das Durchstrahlen der und das Wissen um die Furcht, wenn der Verstand die Gefahren des täglichen Lebens wie die Ausgesetztheit und Ohnmacht des Individuums einzuschätzen lernt.

Die wichtigste Fähigkeit, die diese hell-beobachtende Selbsterfahrung des Fühlens von Lust und Angst mit sich bringt, ist das Alterieren in den antwortenden Handlungen. Wo das höhere Tier mittels genetischer oder Selbstkonditionierung zu einer leiblichen reflexartigen Zugriffs- oder Abwehrauslösung genötigt ist, dort hat sich beim Menschen die Entscheidung über die Handlungsauslösung auf die Innenseite der fühlenden Beobachtung des Ansteigens beziehungsweise Fallens seines "Emotio-Potentiometers" verlagert, mit welcher er seine Reaktion zumindest bis zu einem bestimmten (individuell verschiedenen) Konzentrationsgrad dieser Emotio-Empfindung hemmend und in dieser Hemmphase selbsthandelnd steuern kann. Schlagworte der Psychoanalyse wie "Urangst" oder "Lustprinzip" sind nichts anderes als sich apriorisch gebende Mystifikationen dieses rezipierenden Überganges von der direkten Empfindung zu deren Selbsterleben mit dem hellen Verstand als Fühlen. Alle anderen Gefühle bauen sich direkt parallel mit dem sich durch Rezeption ausdifferenzierenden Verstand als das helle Selbsterleben und Selbstbewerten von Welt im Menschen auf: vom rohen Gefühl bis zur feinen Differenzierung des Gefühls, von den reinen Rohformen Angst und Lust bis hin zu den "raffiniertesten" Vermischungen dieser beiden.

Der Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Geschlechtslust läßt sich so beschreiben: Im ersteren Falle ist es blanke und einfache Lust, die das Tier in seinem Lustzentrum empfindet; diese wird reflexhaft durch einen Schlüsselreiz, gesteuert von genetisch konditionierten Programmen, angeworfen und zieht das Tier unwiderstehlich bis zur Beendigung des Programmes fort – womit die Sache denn beendigt ist. Beim Menschen wirken zwar auch diese Schlüsselreize (s. etwa "Augenlust", sekundäre Geschlechtsmerkmale), sie können den Menschen (jedenfalls normalerweise, es sei denn, es handelt sich um einen völlig "triebhaft" veranlagten Typus) aber nicht rettungslos in ihren Griff bekommen, sondern haben nur eine Art Aufforderungscharakter, indem sie auf die Vorstellung auf der fühlenden Innenseite des Spiegels einwirken und damit einen "unbewußt-bewußten" Wunsch auslösen, welcher erst die Eigenaktivität in Bewegung setzt. Aus diesem hellen Selbstfühlen der Lust folgt ein weiterer Unterschied zum Tiere insofern, als eben diese Vorstellung auf dem Wege zur Lust dabei ist, sowie, daß diese Annäherung an diese an sich selbst als ein "schwellendes Ziehen" erlebt wird, in welchem sich für die Vorstellung durch die Stärke dieses Ziehens ein elementarer und "wirklicherer" Akt auszusprechen scheint als in den sonstigen Vorstellungen. Deshalb wird dieses Zurück zur Lust, das auf seinem Höhepunkt allen Verstand und jede Individualisierung einfach fortspült, als näher an den eigentlichen Wurzeln des Lebens interpretiert beziehungsweise als ein Maximum des menschlich Erlebbaren im Gegensatz zu dem sich sonst so "dünn" gebenden rationalen Leben – dünn nämlich an "lebendiger Empfindung" als existentiell erlebte Innenbewegung, nach welcher alle Kategorien streben. Beim menschlichen Geschlechtsakt haben wir im Gegensatz zum Tier einen doppelten Vorgang; es ist vor allem das bewußte Erleben des Fortgespültwerdens von Bewußtsein und Individualisierung, also die Aufhebung dessen, was den Menschen zum Menschen macht – welch Paradox – und das sich Fallen-Lassen ins Leibliche, was den besonderen menschlichen Lustaspekt ausmacht, der wahrscheinlich höher anzuschlagen ist als der rein leibliche Akt.

Sprache, Denken und Ich-Sphäre

Meist sind es Verletzungen bestimmter Gehirnregionen, welche uns auf die Funktion derselben schließen lassen; der Fall einer linksseitigen Thalamus-Verletzung, mittels Säbels durch einen Unfall verursacht, wobei einerseits das Alt-Gedächtnis völlig erhalten blieb, andererseits neue Namen und Begriffe aber nicht mehr erlernt werden konnten, wohingegen Bilder und räumliche Zusammenhänge, weil rechtsseitig, durchaus vorhanden waren, legt die Annahme nahe, daß der Thalamus mit dem Kurzzeitgedächtnis zu tun haben müsse. Denn diese Kurzzeitfunktion steht in einem sehr engen Zusammenhang mit der im vorstehenden schematisch geforderten Ver- und Entschlüsselung von Sinnessignalen seitens der Sensoren wie aus dem Gedächtnis: die "Datenaufbereitung" (Ver- und Entschlüsselung) wie auch die gebrauchsfähige Darstellung derselben sind das Ergebnis wenn nicht eines, so doch direkt aneinandergrenzender Prozesse. Hypothetisch: das Kurzzeitgedächtnis vermittelt die Signale zum Langzeitgedächtnis, wozu es eine erste "Muttermatritze" der aufbereiteten Signale herstellt; von daher wäre am ehesten wohl so zu definieren, daß Kurzzeitgedächtnis und Bewußtsein identisch sein sollten? Denn offenbar geschieht die Ver- und Entschlüsselung vorher? Mit dieser Matritze kann das Bewußtsein arbeiten, je nachdem, was die entgegenkommende Wiedererkennung samt den in ihr enthaltenen Bewertungen über die Daten aussagen: Latenz, Interesse, sofortige Bearbeitung im "Rechenzentrum" oder reflexhafte Reaktion sind die Folge. Die Konditionierung des Langzeitgedächtnisses (Lernen) scheint dabei auf zweierlei Art möglich: entweder durch eine Verstärkung und Gewöhnung (Wiederholung) des Signales aus dem Kurzzeitgedächtnis, oder aber mittels einer starken Bewertung durch das individuelle Steuerzentrum. Ab einer bestimmten Stärke der Beimischung von Positiv- oder Negativ-Bewertung (sei es durch die momentane Situation oder durch eine Vorbewertung aus dem Gedächtnis) wird das Langzeitgedächtnis ein solches durch die Sinneswahrnehmung aufgenommenes Ereignis ohne wiederholende Einübung direkt speichern, weil dies Ereignen frisch und kräftig bewertet wird (also für das Individuum wichtig ist), und/oder weil es in einem direkten Zusammenhang mit der Ich-Sphäre steht, sei es in Form intellektueller Grenzwerte, des Ich oder Ich-Ich. Daraus ist ersichtlich, daß wir ab der Stufe der Reflexion der Vernunft, in welcher wir über die emotionale Bewertung hinausgelangen und die Wertung ins bewußte Ich/Ich-Ich bekommen, Herr unseres Gedächtnisses zu werden vermögen, indem wir die in ihm liegenden emotionalen Vorbewertungen reflektieren und gegebenenfalls löschen oder ändern; sowie dadurch, daß nunmehr Neubewertungen und deren direkter Zugang zum Gedächtnis nur im Zusammenhang mit der überemotionalen und bewußten Bewertung möglich sind. Diese "Durchmusterung" der bei emotionalen Menschen meist unbewußten Gedächtnisinhalte ist es, auf welche es die Psychoanalyse abgesehen hat: weil der Mensch im Falle von Verdrängungen und Illusionen nicht Herr seiner selbst ist, sondern, wenn Verdrängungen Bereiche seiner Ich-Sphäre betreffen – und nur dann kann man eigentlich von solchen sprechen – im Zwiespalt mit sich selbst ist.

Am Rande: Da wir sehr viele Informationen gleichzeitig und mit verschiedenen Sinnen aufnehmen, werden wir im Gedächtnis mehr an anhängender Information speichern, als wir selbst, das Ich, bei der Wahrnehmung im Bewußtsein bemerkt haben, da das Wahrgenommene immer nur eine Auswahl des uns Angehenden und Vorspringenden des Gegenstandes ist. So können auch Nebenumstände, ohne daß wir davon bewußt wissen, ins Gedächtnis gelangen und gelegentlich der Erinnerung einer Hauptsache mitauftauchen. Nicht jedoch wird man sich willentlich solcher Nebenumstände erinnern können, denn deren wiedererkennbare verschlüsselte Impulse fehlen auf dem oberen Karteireiter-Gedächtnis, vielmehr ist diese Information nur auf der Karteikarte enthalten, so daß hier, wenn entsprechende, die Information abtastende Signale das Karteireiter-Gedächtnis abgreifen, für jene Nebeninformation keine Oberkennung vorhanden ist.

Rekapitulation: das Kurzzeitgedächtnis läßt sich einer ständig erneuernden Matritze vergleichen, in der einerseits der Inhalt der Sinneseindrücke, andrerseits der entgegenkommende und durch die Sinnesimpulse mitaufgerufene Gehalt der Erinnerung miteinander gemischt und als dendritische Vernetzung vorübergehend "eingeritzt" werden. Durch das Rechenzentrum des Bewußtseins in Verbindung mit dem Steuerzentrum des Individuums wird entweder eine direkte, weil wichtige Abspeicherung im Langzeitgedächtnis vorgenommen, oder durch willentlichen Entschluß ein Lern-/Gewöhnungs-/Konditionierungsvorgang eingeleitet, der ebenfalls zu einer Speicherung im Langzeitgedächtnis führen kann.

Hypothese: das bei den Tieren horizontal aneinanderreihende (additive) Gedächtnis, das sich auf bewertende Empfindungen stützt, wird beim Menschen vertikalisiert. Diese Fähigkeit zum vertikalen Aufspalten der Information ist identisch mit der Abstraktionsfähigkeit des Verstandes und führt zur Spezialisierung der Hirnhälften in links/rational und rechts/emotional. Interessant dabei ist, daß räumliche und bildhafte Vorstellungen in der rechten, emotionalen Hälfte angesiedelt sind; sie stehen offenbar der inneren und unbewußten Wahrnehmung näher. Auch werden diese Informationen schon auf tierischer Empfindungsebene von großer Wichtigkeit sein, denn sie müssen schnell und direkt erfaßt werden. Andrerseits setzt die rationale Betrachtung die Zeit zu eben dieser Betrachtung voraus, weil die Ratio eine Hemmung der Emotio ist, und sich aus einer anderen Fähigkeit herausentwickelt: der Verbalisierung (Kombination von Piktogramm und Sprache) und dem sozialen Kontakt. Der Verstand heißt deswegen so, weil er versteht; dieses neuartige Verständnis dient zunächst der besseren Organisation der Gruppe. Verstand baut auf und benutzt die schon im tierischen Bereich vorhandene Fähigkeit, sich zu verständigen. Fast ließe sich darauf wetten, daß bei den höheren Säugern diese "Verständigungsfähigkeit" auf der linken Gehirnhälfte untergebracht ist.

Verbalisierung ist identisch mit Vertikalisierung.

Besteht die tierische Lautäußerung aus einer reaktiv-empfindungsmäßigen Schallwellenerzeugung, die bei Gruppenmitgliedern reflexhafte Schlüsselreize beziehungsweise reflexartig Verhaltensweisen auslösen soll oder zur Abschreckung von Gegnern dient, so ist der menschliche Verstand in der Lage, die Lautmitteilungen seiner Artgenossen in ihre Bestandteile zu zerlegen und damit über den Sinn einzelner Begriffe den Inhalt der Botschaft zu verstehen, also einem Wort unabhängig von äußeren Sinneseindrücken bewußten und selbständigen Inhalt zuzuordnen. Hier mag der Einwand kommen, daß man auch z.B. Schimpansen Sprachzeichen für bestimmte Gegenstände beibringen und sie zur Bildung einfachster Sätze anleiten kann. Aber erstens handelt es sich hier lediglich um eine additiv-horizontale Zeichenverknüpfung: solche "Sätze" von Affen bestehen maximal aus dem Subjekt Affe und einem gewünschten Gegenstand, also seinem Objekt sowie einer Bejahung beziehungsweise Verneinung, die der Affe und alle Tiere entsprechender Entwicklungsstufe zur emotionalen Konditionierung benutzen. Zweitens ist noch lange nicht gesagt, ob denn die Affenkommunikation untereinander sich auch solcher Zeichen bedient! Vielmehr dürfte sicher sein, daß diese zeichenmäßige Verknüpfung zwar eine Potenz des Affengehirnes ist, daß diese aber nicht selbst von den Affen genutzt werden kann! Jedenfalls nicht im Sinne der horizontalen Zeichenverknüpfung und -mitteilung; vielmehr ist die Ausbildung einer solchen Fähigkeit – welches Training offenbar schwierig genug ist und lange Zeit in Anspruch nimmt – nur im Zusammenwirken mit dem Menschen möglich. Der Affe hat demnach in seinem Gehirn eine Potenz, die er selbst nicht nutzen kann.

Emotionalisierung, Sozialisation und Lernfähigkeit haben sich im tierischen Bereich rezeptiv und reflexiv quantitierend bis zu den Affen hinauf wechselwirksam gesteigert, ohne daß es jedoch zu einer echten Zeichenvermittlung hätte kommen können. Lautäußerungen und sonstige Verhaltenskommunikation wirken in diesem Bereich direkt und emotional konditioniert, es fehlt der vertikale Spiegel, die Abstraktion der Einzelteile einer Mitteilung, die Hemmung der Ratio, welche es auf einer neuen Neuronenverknüpfungsebene – dies ist der Qualitätssprung – erlaubt, ganz bestimmte Lautäußerungen mit bestimmten Bildern zu kombinieren. Sprache ist das Ergebnis einer von der Emotio unabhängigen Kombination von Augen- und Ohrensinn; sind diese Sinne beim Tier jeweils einzeln mit der Emotio verbunden, und werden die Sinnessignale jeweils gesondert von dieser bewertet und gespeichert, so bildet sich nunmehr die Ratio aus dieser neuen Zuordnungsfähigkeit von Laut und Bild als eine neue Repräsentanzebene von dendritischen Neuronenverknüpfungen, die zunächst allerdings (und in den meisten Fällen bis heute) als neue Hilfsebene der Emotio unterworfen bleibt, geradeso, wie die Emotio zunächst ebenfalls nur ein Hilfswerkzeug des Instinkts war, bevor sie die Stufe der Reflexion erreichte. Mußte dazu einerseits das Gedächtnis als solches in seiner Funktionsweise nicht völlig neu "erfunden" werden, so war andrerseits zwingend notwendig eine neue Plattform, auf welcher die beiden Sinnessignale von Auge und Ohr kombiniert werden konnten, um dann erst das kombinierte Signal abzuspeichern, ähnlich wie es einer neuen Kombinationsebene bei der Einführung der Emotio bedurfte: um selbständig-individuell Sinnessignal und Potentiometer-Bewertung zu kombinieren. Dann drängt sich aber die Annahme auf, daß dasjenige, was wir Kurzzeitgedächtnis nennen, und unser Bewußtsein völlig identisch sein sollten, was jedenfalls den "spiegelnden Teil" unseres Bewußtseins anlangt. Dies liegt auch schon deshalb nahe, weil wir sonst bei einer getrennten Annahme von beiden bei einem Denkvorgang eine Daten-Verdreifachung anzunehmen hätten: einmal im Kurzzeitgedächtnis, dann im "Spiegel" sowie in der "Recheneinheit" des Bewußtseins. An sich selbst läßt sich jedoch nur eine Daten-Verdoppelung feststellen, nämlich einmal im "Spiegel" und die Übergabe der Spiegel-Information zur "Recheneinheit". Nach dem Gesagten wäre somit das Kurzzeitgedächtnis kein gesondertes Zentrum, sondern eine dem Bewußtsein zugehörige Funktion: d.h., je nach Bewertung durch Emotio und/oder Ratio bleiben dem Bewußtsein bestimmte Daten, solange diese in einem unabgeschlossenen Zusammenhang stehen, innerhalb seiner selbst verfügbar, mitheranziehbar und gehen erst ins Gedächtnis über bei einer bestimmten Stärke der Bewertung, oder sie werden bei Unwichtigkeit "vergessen", oder sie gehen nach Abschluß des Gesamtzusammenhangs ins Gedächtnis über, wenn dieser für das Individuum eine bestimmte Bedeutung hat. Damit scheint aber auch klar, daß unser Bewußtsein nicht nur eine "reine Funktion" ist, sondern eine materielle Unterlage hat, indem Informationen je nach "Vorspringen" und Bewertung auf materieller Basis durch elektrische Verschaltung von Neuronen mehr oder weniger flüchtig festgestellt und festgehalten werden können. Eine immense Zahl von Neuronen muß allein dieser Funktion Bewußtsein zur Verfügung stehen – und zwar verschieden "funktionierende":

1. Das "Rechenzentrum" des Bewußtseins bedarf einer Art "Leerneuronen", welche durch Datenverdoppelung aus dem spiegelnden Teil des Bewußtseins gefüllt werden, und die auf Grund ihrer Vernetzung, welche durch Anlage und Ausbildung vorhanden ist, bestimmte Operationen mit diesen Daten durchführen können.

2. Spiegel- und Kurzzeitspeicher-Neuronen, welche uns eine Vielzahl von Tätigkeiten neben- und nacheinander erlauben, ohne daß uns der jeweilige Zusammenhang verlorengeht, wobei aber dennoch das Langzeitgedächtnis nicht beteiligt ist (jedenfalls nicht beteiligt sein muß) und die Handlungsstränge unabgeschlossen nebeneinanderher verlaufen. Vielleicht könnte man hier auch von einem "rationalen Kurzgedächtnis" insoweit reden, als es sich hier um Speichervorgänge auf chemisch-elektrischer Basis handeln sollte (nur ein elektrisches Vernetzungsverfahren dürfte die Schnelligkeit der Denkvorgänge ermöglichen im Gegensatz zur chemisch-hormonalen Arbeitsweise der Emotio).

3. Eine neuronale Verbindung zu den Altzentren Emotio, Instinkt und Vegetativum: denn auch Vorgänge aus diesen Innenzentren werden uns jedenfalls teilweise bewußt, etwa fühlen wir Schmerz nicht nur, sondern wir wissen auch um ihn, wir können ihn lokalisieren und z.B. auch nicht auf ihn reagieren (hier im Gegensatz zu den Tieren, die reagieren müssen), indem wir also dem Gefühl nicht nachgeben, sondern mit der Ratio dazwischentreten und dem "Leibe" ein anderes Verhalten aufzwingen. Dabei kann bei entsprechender Reflektierung immer die jeweils nächsthöhere Stufe die vor ihr liegende und auch alle darunterliegenden Stufen "beherrschen", also Empfindung kann stärker sein als Instinkt, Gefühl stärker als Empfindung, Verstand stärker als Gefühl, Vernunft stärker als Verstand. Es kommt dabei immer darauf an, wie die Ich-Sphäre vernetzt ist.

Die Signale aller Innenvorgänge, soweit diese der Bewußtheit fähig sind, wie auch alle Sinnessignale stehen unserem Bewußtsein ständig gleichzeitig, jedoch latent zur Verfügung; ins Bewußtsein treten werden diese aber erst, wenn das Signal in seiner Stärke die Latenz-Schwelle überschreitet ("vorspringt"), und/oder wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Signal konzentrieren. Bewußtsein ist sonach nicht nur eine rein spiegelnde Funktion, sondern eine massiv-materielle Repräsentanz, gebildet durch eine neue und selbst mehrschichtige Neuronenschicht, die noch einmal über und auf die Altzentren vertikal aufgesetzt ist. Dieses neue Bewußtsein nimmt wohl den größten Teil der neuerschlossenen Neuronen ein, nicht das Gedächtnis: erstens enthält das Bewußtsein selbst, da es mit dem Kurzzeitgedächtnis identisch ist, selbst löschbare Gedächtniszellen; zweitens ist am Bewußtsein nicht so sehr entscheidend das rationale Gedächtnis, sondern der rationale Zugang und die rationale Konditionierung der Sinneszentren, die in einem ständigen und jeweils eigenen vertikal-kombinativen Konnex zum Bewußtsein stehen. Rationales und emotionales Gedächtnis sind recht eigentlich lediglich Hilfsorgane dieses Bewußtseins, in welchem einesteils rationale Erfahrungen, die das Individuum als in Raum und Zeit gestellt zu deren Handhabung machen muß, niedergelegt sind, sowie prägende persönliche Erfahrungen in dem Ich-(beziehungsweise Ich-Ich-) Gedächtnis, welche entsprechend der Vernetzung der Ich-Sphäre in bestimmter Weise durch Bewerten und Aufeinanderschichten des zeitlich Erlebten hergestellt werden.

Das Persönlichkeitsgedächtnis gehört eher der Ich-Sphäre zu, als diese hierin ihre Bewertungen ablegt, aus und mit diesen die Persönlichkeit herausbildet, diese Bewertungen eventuell reflektiert und sich durch "Austrocknung" der unteren Stufen nach oben bewegt, indem sie sich aus der "Gefangenschaft" der Sinne und Gefühle herauslöst und sich in Eines faßt, indem sie ihre Benutzung zum Zwecke bloßer Funktionalität hinter sich läßt. Beim emotionalen Typ ist Erhebung der Ich-Sphäre aus der Emotio heraus nicht möglich, so daß hier immer die ganze Persönlichkeit direkt betroffen und beteiligt ist, auch wenn die betreffenden Ereignisse nur funktioneller und sich wiederholender Natur sind.

Das rationale Gedächtnis steht eher in Verbindung mit dem Rechenzentrum des Bewußtseins; dieser Recheneinheit wird man wohl eine besondere "Lokalität" in der linken Gehirnhälfte zugestehen müssen als "Sitz des Intellekts". Intellekt ist der reflektierte und angewandte Verstand; einmal als Zentrum, in welchem die verschiedenen Möglichkeiten von Denkoperationen ausgeführt werden, wie Vergleichen, Analogisieren, Deduzieren und Induzieren – insgesamt das Zentrum, das logische Verknüpfungen entlang der Kausalität herstellt, die sich zunächst wohl allein aus dem sprachlichen, aus dem verbalen in Beziehung Setzen herleiten. So daß also nicht nur ein bestimmter Wirkungsträger erkannt werden kann, sondern auch die Art der Wirkung verstanden und benannt wird. Daher stammt wohl das Lautmalerische der Sprache als Reflexion und Eigenhandhabung des eingehenden Sinnessignales, indem ein Gegenstand entlang seiner vorspringenden Wirkungen festgestellt und mitgeteilt wird. Dem typisierten Sinnessignal des Auges, das schon Tiere speichern können (s. etwa die kleine Ente), wird ein ebenfalls typisiertes Lautsignal zugeordnet. Der entscheidende Unterschied zum Tier ist, daß ein Lautsignal nun nicht mehr eine direkte und konditionierte Reaktion auslöst, sondern ein zunächst von Handlungen losgelöstes Bild repräsentiert. Alles, was der Mensch in seinen hellen Verstand bekommen will, muß er zwangsläufig benennen.

Die Entwicklung von Schriftzeichen ist dann "nur noch" eine logische Folge, ein "versetzter Nachläufer" der Sprache selbst: je nach bereits erfolgter Entwicklung der Ratio in Form des Verstandes wird ein Piktogramm entweder des Sinnessignales vom Auge, also eines Bildes, zur Aufzeichnung benutzt; oder aber, mit der Keilschrift der Sumerer und dem Alphabet der Phönizier einsetzend, ein Piktogramm des Lautsignales, wobei die Zeichen aus dem Piktogramm des Augensignales abgeleitet werden: die Schrift wechselt quasi von der rechten in die linke Gehirnhälfte! Es wird nicht mehr auf das Bild, sondern auf den Lautwert reflektiert, die Sprache selbst wird abstrakt.


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