Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit
Feuerbach und Nietzsche

Helmut Walther (Nürnberg)


Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft 3/1999, Schwerpunkt Ludwig Feuerbach, S. 85-98


Mit der 1998 in Buchform erschienenen Dissertation von Wolfgang Wahl(1) mit dem Titel: Feuerbach und Nietzsche. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und des Leibes in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhundert soll die "Wiederentdeckung der Sinnlichkeit" vorgestellt werden. Dieser Gesichtspunkt für eine wirkliche Erkenntnis des Menschen, seines Verhaltens und Denkens erscheint heute ganz selbstverständlich, doch davon war man im 19. Jahrhundert angesichts der Kantschen und Hegelschen Metaphysik weit entfernt. Vielmehr haben erst beide hier zu erörternden Denker ganz erhebliche Anstöße geleistet, um die Entwicklung in diese Richtung zu treiben.(2)

Ihre Thesen zu Leib und Sinnlichkeit wurden weder von Feuerbach noch von Nietzsche systematisch als Voraussetzung zur jeweiligen Philosophie erarbeitet, sondern werden meist im Kontext und zur Begründung anderer im Vordergrund stehender Themen, etwa innerhalb der Religionskritik vorgebracht; die Wahlsche Darstellung dieser Positionen ist daher genötigt, das Material dafür selbst zusammenzutragen. Dies umso mehr, als sich die Gesichtspunkte beider im Verlaufe ihres Philosophierens nicht unerheblich veränderten, hin zu einer stets zunehmenden Betonung des Leiblichen als Grundlage des Geistigen.

Der Autor diskutiert zunächst die Problematik des Leibbegriffes selbst, der ebenso viele verschiedene Deutungen zuläßt wie die ihm häufig gegenübergestellten Begriffe "Geist" oder "Seele". Die mit Descartes einsetzende Aufklärung hatte das Problem des Dualismus nicht gelöst, sondern eher verschärft sowohl in Richtung auf einen funktionellen Materialismus etwa bei La Mettrie als auch hin zum Idealismus bei Hegel. Dazu werden verschiedene Versuche der Rehabilitierung des Leibes gegenüber dem sich zum Prinzipienstifter aufwerfenden Denken geschildert. Beginnend mit der ausgeglichenen Haltung des Aristoteles, der beide Ebenen unter dem Primat der Vernunft miteinander vermittelt, gedenkt der Autor insbesondere A. G. Baumgartens, der mit seinem Werk "Aesthetica" Mitte des 18. Jh. die Ästhetik zur philosophischen Disziplin machte – und zwar nicht als eine Theorie der Kunst, wie dieser Begriff heute meist einschränkend verstanden wird, sondern die Sinnlichkeit als Empfindung und Wahrnehmung heraushebend, die grundlegend für das Denken selbst seien. Sodann wird der "Verdrängung des Leibes" bei Kant die Naturphilosophie Schellings gegenübergestellt mit dem Primat der Existenz als Grund- und Vorbedingung allen Denkens.

Insgesamt läßt sich Wahl leiten vom "Bewußtsein, daß beide Philosophen auch und vor allem als philosophische Antworten auf spezifische Problemlagen dieser gesamteuropäischen Verdrängungs- und Rehabilitierungsbewegung betrachtet werden müssen". Ihre Leistung wird insbesondere darin gesehen, in Deutschland ein Stück ausgebliebener Aufklärung nachzuholen und "das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft neu zu bestimmen". Die Sinnlichkeit wird damit gegenüber der vorher vorherrschenden Metaphysik des Geistes aufgewertet zu einer "Philosophie des Leibes". Erstaunlicherweise ist die Arbeit Wahls der erste Versuch dieser Art, die sich auf den Leib berufende Philosophie beider Denker zu vergleichen, obwohl dies aus zeitlichen und sachlichen Gründen eigentlich nahe liegt. Zum direkten Verhältnis der beiden meint Wahl, es gebe keinen Beleg, daß der jüngere Nietzsche (1844-1900) die Schriften Feuerbachs (*1804) je aktiv rezipiert habe. Nun hat Feuerbach die Veröffentlichungen Nietzsches natürlich nicht mehr zur Kenntnis nehmen können, denn dessen Erstling, "Die Geburt der Tragödie" erschien Neujahr 1872, also im Todesjahr des ersteren. Hingegen hat der Jüngere das Werk Feuerbachs nach Feststellungen seines Biographen Janz sehr wohl gekannt und war schon sehr früh mit dessen Werk vertraut.(3) Richtig ist trotzdem sicherlich, daß von einer direkten Beeinflussung Nietzsches durch Feuerbach nicht die Rede sein kann.

I. Feuerbach

Die zunehmende Beschäftigung mit dem nach 1848 in Vergessenheit geratenen Werk Feuerbachs geht insbesondere zurück auf Klaus Löwith, der die Grundsätze der Philosophie der Zukunft zum Thema seiner Habilitationsschrift machte(4), und vor allem auf W. Schuffenhauer, der "mit seiner Herausgabe der Gesammelten Werke den Grundstein für eine wissenschaftlich exakte Auseinandersetzung mit dem Schaffen Feuerbachs gelegt" hat.(5)

Die Entwicklung des Feuerbachschen Gedankengangs wird ausführlich dargelegt beginnend mit den Ausgangspunkten in der Dissertation sowie den Gedanken zu Tod und Unsterblichkeit, fortgeführt über die philosophiegeschichtlichen Betrachtungen mit Bacon, Böhme und Spinoza hin zu Leibniz, an dessen Monadologie Feuerbach einen Grundzug seines eigenen Denkens wiedererkennt. In ihr findet er ein Fundament seiner eigenen Leibphilosophie: erst die Selbsttätigkeit der Seele aus eigener Kraft führt zur Individuation und deren Spezifikation, woraus "eine jede bestimmte Anzahl überschreitende Fülle von Substanzen" hervorgeht. "Wie der organische Leib ein System aus Systemen ist, so ist der Leib eine Fülle von beseelten Leibern, eine ganze Welt voll Seelen, die aber zusammengebunden sind durch die Eine herrschende Seele." Grundlage dieser Selbsttägigkeit ist die Empfindung:

"Die Empfindung ist die Geburtsstätte des Selbst [...]. Die Vorstellung gibt uns die Welt, die Empfindung unser Selbst ... Nur in der Empfindung liegt die Gewißheit meines Daseins, meines Selbstes. Die Vorstellung dagegen ist die Stellvertreterin der Außenwelt in uns, der Spiegel des Universums, die Repräsentation der Vielheit in der Einheit ..."

Diese Einsicht läßt Feuerbach das Verhältnis zwischen Empfinden und Denken umkehren; galt Denken bis dahin als höchste Erkenntnisleistung, weist er diese Stelle nun der Empfindung zu: "Würde ich nur vorstellen, ohne zugleich zu empfinden, so wüßte ich gar nicht, ob ich bin oder nicht bin." So verwandelt sich ihm die abstrakte Vernunft, weil sie all ihren Gehalt aus der Empfindung bezieht, in eine sinnliche Vernunft des Leibes.

Leib und Geist werden nicht dualistisch gefaßt, sondern sind die Einheit des "Außeinander" der Materie und des "Ineinander" ihrer inneren Bestimmung. "Seele" ist Feuerbach jene durchgehende innere Tätigkeit der Natur, die mit der Vernunft des Menschen im Begriff erfaßt werden kann, und insofern sind beide, "Seele" und Vernunft, unendlich. Dieser nur für die menschliche Vernunft erfahrbare Seelenbegriff konkretisiert sich in der realen Welt "als bestimmte, individuelle Seele, als ein bestimmter Leib": "... in der Seele kommt nur zutage und zum Dasein, was der Leib in und an sich selber ist. So aber wie das Feuer selbst aufhört, wenn vom verbrennlichen Stoffe nichts mehr übrig ist, so hört auch die bestimmte Seele ... zugleich mit ihrem bestimmten Leibe auf." Das Denken der Seele in der Vernunft bringt sie nur auf den Begriff, zur Wirklichkeit kommt Seele durch Empfindung: "Insofern man unter der Seele das Lebensprinzip versteht, so kann man, da die Empfindung das konstituiert, was man Leben nennt, ein Leben ohne Empfindung kein Leben ist, nur so viel Leben ist, als Empfindung ist, mit Recht und Fug sagen, daß die Seele Empfindung sei oder Empfinden." Näherhin meint Feuerbach: "Das Wesen der Empfindung erscheint am bestimmtesten und klarsten in sinnlichen Genüssen.", ohne zwischen Empfindung und Gefühl zu unterscheiden, indem er an derselben Stelle fortfährt: "Ich fühle immer nur Bestimmtes, aber in diesem bestimmten Gefühle bin ich immer selbst, das ganze Individuum, mein ganzes Selbst enthalten, denn jedes Gefühl ist zugleich Gefühl meiner selbst, mein ganzes Sein in einer besonderen Bestimmtheit."(6)

Auch ihm geht es damit um das Thema, das so alt ist wie die Philosophiegeschichte selbst, das sich wie ein roter Faden durch dieselbe zieht: um das Verhältnis von Vernunft und Verstand auf der einen Seite und Empfindung und Gefühl auf der anderen, um das Verhältnis zwischen Sinneswahrnehmung und Denken. Dieses Verhältnis ist bereits am Beginn des Philosophierens bei den Griechen, von den Vorsokratikern bis Platon (Höhlengleichnis) und Aristoteles (erste und zweite Seinsweise) umstritten, das Thema kehrt im Streit zwischen Nominalismus und Realismus der Scholastik wieder und ist bis heute unter den Namen Empirismus/Materialismus/Positivismus kontra Idealismus nicht ausgestanden. "Der Streit oder Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus ist nicht der zwischen Materie und Geist, Leib und Seele, sondern der zwischen Empfinden und Denken.", so bringt Feuerbach seine Abwendung von der Hegelschen Metaphysik auf den Punkt. Für ihn steht dabei im Vordergrund die Sinnlichkeit des Wirklichen und die Wirklichkeit des Sinnlichen. Religion insbesondere in Form des Christentums und idealistische Spekulationen über die "Verfassung des Seins" lehnt er als Irrwege der Vernunft ab. Er dreht wie in seiner Religionskritik die Perspektive auch insoweit um: es gibt kein allein der Vernunft erkennbares apriorisches Sein noch prästabilierte Ordnungsstrukturen in diesem. Vielmehr sei es Aufgabe der sinnlichen Vernunft, durch die umschaffende Tat in die Wirklichkeit zu wirken. Aufgabe der Philosophie ist nicht, die Identität von Sein und Denken zu stiften, sondern das real Seiende im Hinblick auf die von der sinnlichen Vernunft aufzustellenden Ziele umzuformen.

Die Logik wird ihm daher nurmehr zu einem Organ der Philosophie, und der vordem, etwa bei Schelling, positiv besetzte Begriff der "Spekulation" erhält erst hier und seither seine negative Färbung. Diese Form der Metaphysik wird grundsätzlich abgelehnt, akzeptiert wird lediglich eine "Metaphysik des Leibes", die den Ansatz des Descartes auf den Kopf stellt: "sentio ergo sum". Die Konstitution des Ich wird in den Leib verlegt(7): "Aber das wesentliche, der ursprüngliche, der notwendige mit dem Ich verknüpfte Gegensatz des Ich – ist der Leib, das Fleisch, der Konflikt von Geist und Fleisch, nur der allein, meine Herren, ist das oberste principium metaphysicum, nur der allein das Geheimnis der Schöpfung, der Grund der Welt." Aus dieser Verknüpfung der Gegensätze im und als Leib entspringt als "die erste, die allgemeine Wissenschaft ... einzig die Psychologie, als welche keine andre Aufgabe hat, als das Ich zu deklinieren, um aus den verschiedenen Verhältnissen des Ich in sich selber verschiedene Prinzipien zu deduzieren." "Ich bin, ist Sache des Herzens, ich denke – Sache des Kopfes. Cogito ergo sum? Nein, sentio ergo sum. Fühlen ist nur mein Sein. Denken ist mein Nichtsein, Denken ist die Position der Gattung, die Vernunft das Nichts der Persönlichkeit." Diese immanente Metaphysik des Leibes findet ihre Ziele allein in dessen Realität; nicht in der spekulativen Erkundung letztgültiger Ordnungsmuster, wie in der "verkappten Theologie" Hegels, sondern in der Hoffnung auf Selbstverwirklichung und Vereinigung aller Menschen miteinander und mit der Natur.

Da alles leibliche Empfinden innerhalb der Zeit ereignet wird, sind alle seelischen Prozesse ebenso innerhalb von Zeit, und so wird von Feuerbach als erstem der Zusammenhang von Zeitlichkeit und Empfindung philosophisch thematisiert, der in der späteren Existentialphilosophie (man denke nur an Heideggers "Sein und Zeit") eine große Rolle spielen wird. Feuerbach selbst stellt dabei der linearen Zeitstruktur der Vernunft die kugelförmige Geschlossenheit des Augenblicks gegenüber, dessen Abgeschlossenheit allein durch das Denken des Menschen überwunden werden kann, indem er die Augenblicke der Empfindung kontinuiert.

Damit wird der Wahrheitsbegriff von Feuerbach dynamisiert, historisiert und der Perspektivität unterworfen: "Die neue Philosophie ist die Negation ebensowohl des Rationalismus als des Mystizismus, ebensowohl des Pantheismus als des Personalismus, ebensowohl des Atheismus als des Theismus; sie ist die Einheit aller dieser antithetischen Wahrheiten als eine absolut selbständige und lautere Wahrheit." Hier wird die Dialektik Hegels zwar auf- und angenommen, nicht jedoch als in einer endgültigen Vermittlung endend, sondern als stete Offenheit nach vorne, als fortschreitende Bewegung auf der Basis der sinnlichen Vernunft des Leibes.

Aus dieser Bewegung Feuerbachs vom "Sein" ins "Seiende", von der Ontologie zur Wirklichkeitsbeobachtung, von der spekulativen Vernunft des Geistes zur sinnlichen Vernunft des Leibes wie aus der Aufgabe eines letztgültigen Wahrheitsbegriffs und des dazugehörigen "Systems" wird ihm zwar der Vorwurf gemacht, daß er "hinter das Reflexionsniveau seines Lehrers zurückging" (Löwith). Doch sowohl die Phänomenologie am Beginn 20. Jahrhunderts wie auch alle "praktische" und "utilitaristische" Philosophie ist ihm hierin gefolgt.

"Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." – dieser Satz Nietzsches hätte ebenso gut von Feuerbach gesagt werden können. Vielen Menschen, die sich mit ihrer Vernunft identifizieren, bereitet deren Rückführung auf ihre leibliche Basis Unbehagen. Dabei es ist doch gerade die Erkenntnis dieser Bedingtheit, mit der sich die Vernunft aus ihrem selbstgeschaffenen Gefängnis der Metaphysik zu befreien vermag: "... endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so offenes Meer." Man wird es an der Diktion bemerkt haben, wir gehen jetzt zu Nietzsche über.

II. Nietzsche

Musik und Kunst, also dasjenige, was mit dem eingeschränkten Begriff von Ästhetik zu fassen gesucht wird, sind die Ausgangspunkte des Denkens und Schaffens Nietzsches: der gerade mal 24-jährige Basler Philologieprofessor intoniert mit der schließlich 1872 erschienenen Geburt der Tragödie – noch unter dem Einfluß des nahe Basel in Tribschen wohnenden Richard Wagner, mit dem er engen Verkehr pflegt – bereits den Kern seiner Themen. Zugleich kritisiert er mit den bis 1875 erschienenen vier Unzeitgemäßen Betrachtungen die Fehlentwicklung des modernen Menschen, vermittelt von einer falsch orientierten Bildung, Wissenschaft, Ökonomie und Geschichtssicht: "Überstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur deine eigene." Nietzsche diagnostiziert mithin einen Widerspruch von Leben und Wissen: Indem sich der Mensch mittels reflektierten Wissens zu sichern suche, verkümmere darüber seine natürliche, instinktgegebene Tathaftigkeit. Er wisse nicht, "wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt." Dieser "Abirrung" stellt Nietzsche als Muster die antike griechische Kultur gegenüber mit dem delphischen "Erkenne dich selbst."(8) Das Wissen ist am Leben zu orientieren, und nicht das Leben am Wissen: "Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eigenen Fortexistenz hat. So bedarf die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Ueberwachung; einer Gesundheitslehre des Lebens ..." Leben ist dabei für Nietzsche eine "dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht." In diesem Bewußtsein habe der vorsokratische Grieche gelebt, seit Sokrates aber versuche sich der Mensch mittels Vernunft und Wissen von diesen seinen lebendigen und natürlichen Wurzeln abzuschneiden, um sich in metaphysischen Sphären zu sichern, wozu dann auch das Christentum gezählt wird. Mit diesem kam gegenüber den Griechen, den "humansten Menschen der alten Zeit", die "Sklavenmoral" obenauf. Hätten die Griechen mit der Kunst und deren "metaphysischem Trost" das "Raubtierhafte" der Natur überspielt – das "Ekelhafte", "Erbarmungslose" und "Mörderische", auf dem "der Mensch ruht" –, und damit das Leben erhöht, so nutze der moderne Mensch seinen Erfindungsreichtum und seine Verstellung nur noch zu destruktiver Weltverneinung. Indem der Mensch dies Raubtierhafte der Natur selbst zu unterdrücken suche, um sich zu sichern, schwäche er sich selbst. Diesen Sachverhalt drückt er später im Bild der "blonden Bestie" aus – damit ist nicht eine Art Wille zur Grausamkeit, sondern der Umstand bildlich ausgesprochen, daß der Mensch diese naturgegebene "dunkle" Seite seines Wesens nicht abschneiden könne, ohne sich damit von seiner Natur bis hin zur Selbstaufgabe zu entfernen.

Aus dieser Einschätzung heraus erwartet Nietzsche zunächst von der Kunst, und das heißt hier vom "Gesamtkunstwerk" Richard Wagners, einen neuen Anstoß für die aktivierende Umformung der Kultur. Kunst ist für Nietzsche immer weniger ein nur ästhetischer Begriff, vielmehr verschränkt sie sich für ihn mit dem Leben in der Weise, daß letzteres nicht nur der Selbsterhaltung dient, sondern vor allem der Steigerung, Lebendigkeit und Machterweiterung seiner selbst. In der Kunst allein kann der Mensch diese erhöhenden Ziele vor sich selbst verklärt hinstellen, die Natur in ihrer erschreckenden Doppelnatur aus Raubtierfratze und Illusion erkennen und annehmen. Schließlich zeigt sich Nietzsche die ganze "Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk", womit der auf Kunst eingeschränkte Begriff des Ästhetischen in seiner sinnlichen Grundbestimmung wieder auf das Ganze der Welt angewandt werden kann.

Ähnlich wie Feuerbach muß jedoch auch Nietzsche erkennen, daß sein Ansatz noch nicht tief genug greift – er braucht erst noch eine Kritik der menschlichen Erkenntnis selbst, um die unheilvolle Spaltung von Leib und Geist zu überwinden. Mit Menschliches Allzumenschliches (1876/78) beginnt denn auch das Zerwürfnis mit Richard Wagner und die sogenannte "positivistische Epoche" im Denken Nietzsches.

Für einen Philologen nicht verwunderlich, aber auch mit bemerkenswertem Gespür für den phylogenetischen Entwicklungsgang der Vernunft greift er dazu zielsicher auf Parmenides (540-480 vC) zurück. Dieser habe angeblich das Reich der Sinne von dem der Abstraktion geschieden und sei so der Vater des Dualismus zwischen Leib und Geist: "Nur in den verblaßtesten, abgezogensten Allgemeinheiten, in den leeren Hülsen der unbestimmtesten Worte soll jetzt die Wahrheit wie in einem Gehäuse aus Spinnefäden, wohnen: und neben einer solchen "Wahrheit" sitzt nun der Philosoph, ebenfalls blutlos wie eine Abstraktion und rings in Formeln eingesponnen ..." Dies ist eine recht genaue Parallele zur Hegel-Kritik Feuerbachs, und ebenso wie jener stellt Nietzsche zunächst unter Berufung auf Kant fest, daß die Logik der Vernunft zwar negative Bedingung des Wahren sei, Inhalte und Qualitäten des Lebendigen kann sie jedoch nicht erreichen. Parmenides wird ihm der Urheber dieses Auseinanderreißens von Sinnlichkeit und Intellekt, hingegen sieht er in Heraklit bereits seine eigene Auffassung des Widerstreits der Gegensätze und des Werdens als einer ewigen Wiederkunft des Gleichen vorgeprägt ("pólemos patèr pantôn").

Für Nietzsche ist der Verstand nicht nur "a priori" an Raum und Zeit gebunden, und damit an sinnliche Konstituenten, ebenso hängt alles Denken des Verstandes und der Vernunft von Worten ab – und damit geht er in seiner Sprachkritik über Kant hinaus: "Durch Worte und Begriffe werden wir nie hinter die Wand der Relationen, etwa in irgendeinen fabelhaften Urgrund der Dinge, gelangen und selbst in den reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes, in Raum Zeit und Kausalität gewinnen wir nichts, was einer veritas aeterna ähnlich sähe."(9)

"Was ist ein Wort?", fragt er weiter; "Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten." – und so führt er schrittweise, die Begriffe auf Anschauung, von Anschauung auf Bilder, von Bildern auf Vorstellungen und von diesen wiederum auf Empfindungen, Lust und Unlust zurück. "Große Frage: ist die Empfindung eine Urthatsache aller Materie?" "Wenn alles Empfindung hat, so haben wir ein Durcheinander von kleinsten größeren und größten Empfindungscentren." Den Empfindungs- und Erkenntnisapparat bezeichnet er als einen Spiegel, der in einem Entwicklungsprozeß zugleich mit den Dingen in der Welt entsteht: "Nun hat sich der Mensch langsam entwickelt und die Erkenntniß entwickelt sich noch: also das Weltbild wird immer wahrer und vollständiger. Natürlich ist es nur eine Wiederspiegelung, eine immer deutlichere. Der Spiegel selbst ist aber nichts ganz Fremdes und dem Wesen der Dinge Ungehöriges, sondern selbst langsam entstanden als Wesen der Dinge gleichfalls. Wir sehen ein Streben, den Spiegel immer adäquater zu machen den natürlichen Prozeß setzt die Wissenschaft fort." "Ich denke, der Spiegel beweist die Dinge."

So wird ihm nicht nur die Fundierung des Geistes durch Empfindung und Instinkt bewußt, sondern auch dessen Abhängigkeit von der mit ihm selbst geschaffenen Sprache. Die subjektiven Interpretationen des Leibes fundieren bereits alles Denken als Sprache, Erfahrung und Vernunft: der Mensch ist so quasi von "concentrischen" "Gefängnismauern" umgeben, dem "Labyrinth seines Leibes". Die Nähe zum platonischen Gleichnis liegt wohl auf der Hand – hat die Höhle Platons jedoch einen stufenhaften Ausgang zum "wahren Licht", so ist für Nietzsche das Gefängnis des Leibes unentrinnbar. Gleichzeitig wird damit die "große Vernunft des Leibes" als "Gefühl der Macht" über die "kleine Vernunft" des Gedankens gestellt.

An dieser Stelle – und dies ist wohl der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Philosophien, aus ihm leiten sich die divergierenden Folgerungen ab – kommen Feuerbach und Nietzsche zu entgegengesetzten Ergebnissen:

Denkt Feuerbach seine mit Leibniz als "Monaden" bezeichneten kleinsten beseelten Einheiten in der Weise, daß sie rezeptiv im "Auseinander" in einem direkten Kontakt mit der Wirklichkeit stehen, aus der reflexiv die Interpretation des Wirklichen einschließlich der Ich-Bildung hervorgeht, so sind diese kleinsten lebendigen Einheiten, "Willensatome" genannt, bei Nietzsche "fensterlos" als Ergebnis interner "Nerventhätigkeit": auch die sinnliche Rezeption ist für ihn bereits durch den "Machtkampf" der Willensatome bedingte subjektive Interpretation. Bei Feuerbach zeigen mithin die Sinne Wirklichkeit, bei Nietzsche ist alles "Erkennen" Illusion. Feuerbachs Ansatz ist "naiv", indem er eine weitere theoretische Rückführung der Empfindung von diesem Subsystem auf die "Monaden" ablehnt und die Empfindung für "ursprünglich" hält; Nietzsche hingegen denkt das Zustandekommen auch noch von Empfindungen und deren Bedingtheit auf die kleinsten Einheiten in einem Modell zurück. So richtig diese reduktionistische Denkweise an sich hier ist, die bei Feuerbach fehlt, so falsch ist die Konsequenz:

Das Leben, die Welt selbst werden für Nietzsche so zu einem ästhetisch-illusionären Kunstwerk im Spiel der sich verbindenden und überlagernden Willensatome; deren Antrieb sei nicht der "Wille zum Dasein", sondern die Steigerung als "Wille zur Macht": "Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon ..." Mit dieser Verschiebung wechseln dann notwendig die moralischen Wertschätzungen: "Wenn wir eine Handlung im Gefühle der Macht thun, so nennen wir sie moralisch und empfinden Freiheit des Willens." Unter "Gefühl" versteht Nietzsche dabei nichts Absolutes und Unterhinterfragbares, auch diese sind veränderbare Produkte des Werdens: "Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind ..."

In jede Wahrnehmung fließt für ihn leitend bereits dieses "Gefühl der Macht" ein – richtig daran ist zumindest soviel, daß "unsere Phantasie mithilft, ausdichtet und uns die Anstrengung der vielen Einzelwahrnehmungen erspart. ... Die Dinge rühren unsere Saiten an, wir aber machen die Melodie daraus." Heute wissen wir durch viele naturwissenschaftliche und psychologische Versuche, welch großen Anteil an der Wahrnehmung das Vergleichen mit vorgespeicherten genetischen und kulturellen Gedächtnisinhalten und die emotionale Bewertung haben. Nietzsche ist der erste, der diese sich schichtenden Rezeptions- und Reflexionszusammenhänge bis auf die leibliche Basis von Wahrnehmung und Empfindung in einem Modell herunterdenkt.

So faßt er die Instinkte des Menschen bereits als eine Art "offene Programme" auf, die durch die Umwelt geprägt werden (soziale, geschichtliche, geographische und klimatische Bedingungen). Zusammen mit den "moralischen Wertungen" der Emotio zielen sie auf die Selbsterhaltung des Individuums; damit ist klar, daß die wesentlichsten menschlichen Motivationen allesamt bereits aus dem Tierreich herstammen: "Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, – kurz alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist thierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen."

Der Wille des Menschen, von Instinkt und Lust geführt, ist in solcher Sehweise naturgemäß determiniert(10), und mit einer irgendwie gearteten Teleologie ist es im Spiel der Kräfte nichts. "Der Gesamt-Charakter der Welt ist ... in alle Ewigkeit Chaos ... Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Nothwendigkeiten." Gleichzeitig ist Nietzsche damit "jenseits von gut und böse": die Unbewußtheit und die Notwendigkeit aller Handlungen hebt die bisherige Zurechnung und Verantwortlichkeit für die eigenen Taten auf, ja, es gibt keine "bösen" Handlungen. In Wirklichkeit liegen hier nur Wertschätzungen zugrunde, die durch lange Übung sanktioniert worden sind.

Deshalb ist es für ihn "wesentlich, vom Leibe aus[zu]gehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist."

Der Leib wird ihm so zum "Herrschaftsgebilde", zur Einheit in der Vielheit, das wieder als Vorlage dient für die Organisationsformen von Gruppen und Staaten, und das zuletzt auf den Kosmos bezogen wird – in allem wird nun jener Wille zur Macht als konstitutiv gesehen. Gleichzeitig gewinnt so der – mesokosmisch betrachtet – leicht zur bloßer Destruktion führende Machtwille seine kosmische Absegnung als alles durchgreifendes Prinzip, zurückgebunden im Gedanken der "Ewigen Wiederkunft des Gleichen". Denn der Machtwille bleibt immer auch an seine Basis gebunden, sein reales Wachstum erfolgt ja immer "auf Kosten" von Vorhandenem – im Verzehren der Basis nimmt er sich selbst die Möglichkeit weiteren Anschwellens, und so ebbt er ab, ein stetes sich wiederholendes dynamisches Ungleichgewicht, das "Werden".(11)

Dieser Gedanke hat zwar zunächst etwas Großes, und er scheint oberflächlich auch "wissenschaftlich" zu argumentieren, aber wie uns die moderne Naturwissenschaft sagt, ist er zunächst objektiv falsch. Erstens wissen wir nicht, ob sich das Weltall ewig ausdehnt oder kollabiert, und zweitens kann die Wiederholung des Gleichen tatsächlich nicht vorhergesagt werden, da jede Entwicklung eines Weltalls völlig unvorhersehbare Wege nehmen kann.

Noch schlimmer ist es um die Konsequenzen eines solchen Weltbildes bestellt, das einerseits den Willen zur Macht als Grundkonstituente über alle Ebenen behauptet, und gleichzeitig auf Grund der Synthetik von aller Wahrnehmung und Interpretation und der angeblich daraus hervorgehenden Determination alles Seienden jegliche Verantwortung des Machtstrebens für sein Handeln ablehnt: "Sklaverei ist nothwendig zur Bildung eines höheren Organismus, ebenso Kasten ... Ein Verband muß streben überreich zu werden (Überbevölkerung), um einen neuen zu produziren (Colonien), um zu zerfallen in selbständige Wesen." Man sieht, wie unsinnig (und unethisch) es ist, in Art des starken Reduktionismus ein Schema, das auf einer unteren Ebene richtig sein mag, auf eine höhere Ebene zu übertragen – die Kolonisierung der weißen Rasse und Sklaverei waren Verbrechen, und was die Überbevölkerung der Erde noch anrichten wird, läßt sich bereits heute ausrechnen. "Ich lehre das Nein [zu] Allem, was schwach macht – was erschöpft. Ich lehre das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert ... Man soll kranke Glieder amputieren: erste Moral der Gesellschaft ... Die Gesellschaft ist ein Leib an dem kein Glied krank sein darf, wenn er nicht überhaupt Gefahr Laufen will: ein krankes Glied, das verdirbt, muß amputirt werden: ich werde die amputablen Typen der Gesellschaft beim Namen nennen ..." Diese Zeilen sind zwar 1888, also bereits von der beginnenden Paralyse beeinflußt niedergeschrieben, aber sie zeigen in ihrer unerträglichen Plattheit und unverhüllten Konsequenz das Gefährliche und Falsche der zugrundeliegenden Theorie auf. Nur 50 Jahre später sollten es die Deutschen unternehmen, eine solche "Amputation" am "Leib des deutschen Volkes" auszuführen – und nicht zu Unrecht konnten sie sich – jedenfalls in einer einseitigen Auslegung des von ihm Gesagten – auf Nietzsche berufen.

Für ihn ist der Sinn des Lebens das Experiment des Lebens selbst, es ist der Leib in all seinen verschiedenen Ausformungen, der in der Existenz und nicht im Denken dieses Experiment zum Austrag bringt – und daher ist jede bestimmte Moral, die den Menschen auf bestimmte Seinsweisen einengen will, falsch, weil diesem Experimentcharakter des Lebens selbst hinderlich, dem der amor fati Nietzsches gilt: "Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels; und irgend ein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: nein! der Mensch sollte anders sein?" Im Gegenteil, es gilt alle Sinne und alles Sinnliche zu verfeinern als Steigerung des Leibes und die verschiedenen Perspektiven des Sinnlichen auf- und anzunehmen. Diesen Bestrebungen des Individuums stehen in der Sicht Nietzsches Religion, Wissenschaft, die moderne Art des industriellen Wirtschaftens, aber auch Demokratisierung und Sozialisierung entgegen, die allesamt unter dem Primat der abstrahierenden Vernunft auf eine Egalisierung des Menschen hinwirken, was zu einer "Gesamt-Dämpfung des Lebensgefühls" und zur "Heerdenbildung" führe.

Dieses Unverständnis allen wichtigen gesellschaftlichen Bewegungen seiner Zeit gegenüber wie auch sein Verrat an der Vernunft und der Ethik durch deren Instrumentalisierung zugunsten einer angeblich auf Macht zielenden Sinnlichkeit aber zeigen, daß ihm insgesamt eine befriedigende Anthropologie nicht gelungen ist, in der Instinkt, Empfindung, Verstand und Vernunft sinnvoll aufeinander bezogen sind.

III. Zusammenfassung:

Beide Philosophen, Feuerbach und Nietzsche, instrumentalisieren unter Zertrümmerung jeglicher Metaphysik die Vernunft und könnten so als anti-intellektualistisch bezeichnet werden. Beide rekurrieren, wenn auch in unterschiedlicher Tiefenschärfe, auf die Strukturen von Wahrnehmung und Empfindung als das tragende und bestimmende Fundament des Denkens. Beide denken den Leib ähnlich – als zusammengesetzt aus verschiedenen Schichten von Untersystemen und zuletzt aus kleinsten Einheiten bestehend, die Feuerbach ähnlich wie Leibniz die Monaden faßt, bei Nietzsche Willensatome genannt werden. Ein wichtiger Unterschied besteht in der Auffassung der kleinsten Einheiten wie der Subsysteme: denkt sie Feuerbach als in realem Rezeptionskontakt zur Außenwelt stehend, woraus durch Reflexion die Interpretation hervorgeht – womit denn die Interpretation zu einem wirklichen Kontakt mit dem Außen und somit zu echter Erkenntnis auf der Basis der Sinne in der Lage ist, so sind die Willensatome Nietzsches insoweit "fensterlos" zum Außen, als bereits die Interpretation des Rezeptionsreizes ausschließlich im Innen gedacht wird, lediglich auf Anlaß des Reizes hin. Damit bleibt aber die Außenwelt in ihrem An-Sich-Sein völlig unerkennbar, alles ist Interpretation.(12)

Übereinstimmung herrscht zwischen beiden in der Unhintergehbarkeit der Empfindung für den Menschen, wenn auch Nietzsche im Sinne eines monistischen Weltbildes hier trotzdem ein kühnes Funktionsmodell von Nerventätigkeit und Willensatomen entwirft. Aus dieser Unhintergehbarkeit folgt für beide eine vollständige Determination des bewußten Willens, es ist der Leib und dessen genetische bzw. in seiner Entwicklung erworbene Prägungen, die Handeln und Denken anleiten.

Beide gehen dabei von der Selbsttägkeit alles Lebens aus, also von einer "inneren Kraft", und stellen im Gegensatz zur metaphysischen Essenz die Existenz des Individuums in den Mittelpunkt. Sinn der Existenz ist für Feuerbach die Verwirklichung aller im Individuum liegenden Anlagen, womit sich gleichzeitig im Vortreiben der gattungsmäßigen Grenzen durch die Individuen die Gattung selbst erhebt und verwirklicht. Die dabei zugrundegelegten Werte sind eudämonistischer und zugleich tuistischer Natur: nur in der Bezogenheit auf seine Mitmenschen kann sich der Mensch verwirklichen; da diese Selbstverwirklichung seine Empfindung von Glück ausmacht, müssen andere Menschen darin einbezogen sein, worauf sich wiederum die Ethik gründet. Die Vernunft behält mithin insbesondere ihre ethische Funktion in der Anerkennung des gleichen Interesses aller Menschen an ihrem je eigenen Glück, wenn auch im Dienste der Sensualität.

Nietzsche hingegen faßt die Selbsttätigkeit als "Willen zur Macht" – er setzt einseitig auf die Steigerung. Reflexion, Religion und Ethik sind ihm Mittel der Schwachen, um über die Starken Herr zu werden; nicht zu Unrecht sieht er, daß die Vernunft von der Wesensgleichheit der Menschen ausgeht, und so muß er sie als der Steigerung der Individuen im Wege stehend verwerfen. Mithin bezeichnet sich in Nietzsche diese Vernunft mit sich selbst als Irrweg, sie will wieder hinab ins Reich der Sinne, um dem Agon der Willensatome, der sich in der Empfindung äußert, die Wegbahnung hin zum "neuen Menschen" zu überlassen.

Das Buch gibt in seinem vierten Teil einen Ausblick, wie insbesondere in der Phänomenologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gedanken Feuerbachs und Nietzsches teils direkt, teils indirekt weiterwirkten; Wahl beschreibt in diesem Zusammenhang insbesondere die Bestrebungen von Husserl, Merleau-Ponty, Heidegger und Plessner, die je auf ihre Weise Sinnlichkeit und Leib zusammendenken. Demgegenüber erscheint es allerdings bedauerlich, daß nicht auch auf die moderne Kognitionswissenschaft eingegangen wird, sondern die "Sinnlichkeit" durchweg als "unhintergehbar" reklamiert wird, obwohl Nietzsche sie zu hintergehen sucht, und dabei ein gutes Gespür beweist, das sehr gut mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen hätte zusammengehalten werden können. Unsere Sinne und deren emotional bewertete "Synästhesie", aus denen sich zuletzt der Verstand bildet, sind keine "Black Box", der man sich nur im Rahmen einer spekulativen Phänomenologie annähern könnte.

Der "Leib" wird so selbst wieder zum "Metaphysikum", zur "unhintergehbaren" Mystifikation, bevor darauf gesehen wird, was heute der Wissenschaft in Bezug auf Ratio und Sinnlichkeit bereits zugänglich ist. Seine Vergegenständlichung wird abgelehnt, hinter "ihn", seine angebliche "Totalität" soll nicht zurückgefragt werden – er wird zu einem "an sich", das man allein aus diesem "an sich" erklären will (und weshalb Heidegger die evolutionäre Abstammungslehre im Hinblick auf den Menschen für völlig bedeutungslos hielt).

Die "Empfindung" soll (und zwar schon bei Feuerbach) die "Totalheit" des Erlebens des menschlichen Wesens vom "Leib" her gewährleisten. Dabei ist zwar häufig von Empfindung und Gefühl die Rede, so daß diese beiden Begriffe nebeneinander nicht als Synonyme gemeint sein können (dasselbe gilt übrigens für die Begriffe Verstand und Vernunft); aber nirgends, weder bei Feuerbach noch bei Nietzsche, und auch nicht bei Wahl ist ein konkreter Ansatz dafür angegeben, warum beide Begriffe jeweils nebeneinander verwendet werden, bzw. was deren Unterschied sei und wie sie jeweils zueinander stünden.

Ist der Glaube an den Primat der Empfindung, den im übrigen die große Mehrheit der Menschen ganz unreflektiert teilt, nicht eine Folge dieser angeblichen "Unhintergehbarkeit"? Natürlich ist es so, daß der Mensch sich von demjenigen bewegt glaubt, was er als letzte Ursache davon in sich zu "spüren" meint – genau das aber sind die Empfindungen, weiter "hinunter" reicht das individuell-lebendige Bewußtsein des Menschen nicht. Solchem Glauben huldigt auch jener lange Zeit in den Bestsellerlisten weit oben stehende Titel, Golemans "Emotionale Intelligenz"; was meint das anderes als die "sinnliche Vernunft" Feuerbachs? Auch daran läßt sich seine Modernität ermessen.

Diese angebliche Unhintergehbarkeit gilt aber keinesfalls für das objektive Wissen, das der Mensch im Wege der Naturwissenschaft über sich selbst herstellen kann – ganz im Gegenteil haben die verschiedenen Zweige der Kognitionswissenschaften, etwa die Forschungen von Crick und Damasio, inzwischen zumindest vom Prinzip her erhellt, wie die synthetische Funktion unseres Neuronalsystems Gehirn zu so etwas wie Bewußtsein und Geist, vor allem aber auch zu den diesen vorausliegenden Empfindungen führen kann und den notwendig aufeinander aufbauenden Zusammenhang dieser Systeme gezeigt.

Von diesem Zusammenhang mit der Moderne hätte man gerne mehr gehört – und dies wohl im Einvernehmen mit Feuerbach und Nietzsche, denen es um das "lebendige Leben" ging, um Existenzveränderung in der Realität entlang eines Menschenbildes, das mit der "wahren Verfaßtheit" des Menschen, also insbesondere als reales und sinnliches Wesen, wie ihn uns die Wissenschaft zeigt, übereinstimmt.

Anmerkungen:

(1) Wolfgang Wahl, Feuerbach und Nietzsche. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und des Leibes in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Ergon Verlag Würzburg 1998, 359 S., als Band 12 in der Reihe Spektrum Philosophie, DM 84,-

(2) In allgemeinerer Form wurden die äußeren Berührungspunkte Feuerbachs und Nietzsches im Artikel "Biedermann und Visionäre. Zur Feuerbach-Rezeption bei Nietzsche und Wagner" bereits angesprochen, veröffentlicht in Aufklärung und Kritik 1/1999, S. 128 ff. sowie auf der Internet-Homepage der Ludwig-Feuerbach-Gesellschaft (www.ludwig-feuerbach.de)

(3) C. P. Janz, Nietzsche, Hanser Verlag, München-Wien 1978, Bd. I, S. 23: Wesen des Christenthums und Gedanken über Tod und Unsterblichkeit waren Weihnachtswünsche des 17-Jährigen. Interessant ist auch sicherlich, daß es spätestens 1872 persönliche Berührungspunkte zwischen der Familie Feuerbachs und Nietzsche gegeben hat, nämlich mit Henriette Feuerbach, der Stiefmutter des Malers Anselm Feuerbach.

(4) "... in dämmernden großen Umrissen begann ein Neues am Horizont aufzutauchen [...]. Und nichts demonstrierte den Umschwung in der Geschichte der Philosophie deutlicher als die Stellung Feuerbachs zu Hegel. [...] Feuerbachs Philosophie ist der erste bedeutendere Versuch, trotz Hegel und gegen Hegel und das heißt soviel wie gegen den deutschen Idealismus weiter zu philosophieren." Wahl, S. 45

(5) "Seine leidenschaftliche und schonungslose Entlarvung der Religion und des Idealismus als illusionärer Weltanschauung, der religiösen als einer verkehrten Welt, bietet schließlich der revolutionären demokratischen Bewegung, die Feuerbachs Lehre begeistert aufnahm, den entscheidenden Ansatzpunkt, zur Kritik der wirklichen Welt überzugehen [...]." "Er bekennt sich ohne Umschweife zum Primat der Materie, das heißt zur konsequent materialistischen Antwort auf die Grundfrage der Philosophie, die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewußtsein, Denken und Sein. Er faßt das Sein als das Primäre, charakterisiert es als die objektive Realität: ‚Wirkliches, sinnliches Sein ist solches, welches nicht abhängt von meinem Mich-selbst-Bestimmen, von meiner Tätigkeit, sondern von welchem ich unwillkürlich bestimmt werde, welches ist, wenn ich auch gar nicht bin, es gar nicht denke, fühle.‘" W. Schuffenhauer, Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde, Dietz Verlag Berlin 1958, S. 12

(6) Es ist eine Krux bis heute, daß weder zwischen Empfindung und Gefühl noch zwischen Verstand und Vernunft begrifflich unterschieden wird, anstatt die Unterschiede zwischen den Begriffsinhalten zur Erhellung der anthropologischen Deutung zu nutzen; um diese Verschiedenheit zu demonstrieren, zwei Zitate:
"... so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann." Kant, Immanuel, Die drei Kritiken, Hg. Raymund Schmidt, Stuttgart 1975, S. 147
"‚Gefühl’ und ‚Empfindung’, diese beiden unaufhörlich verwechselten Begriffe, müssen wir, ehe unsre Untersuchung beginnen kann, streng unterscheiden. Empfindung ist das Wahrnehmen einer bestimmten Sinnesqualität: eines Tons, einer Farbe. Gefühl das Bewußtwerden einer Förderung oder Hemmung unsres Seelenzustandes, also eines Wohlseins oder Mißbehagens. Wenn ich den Geruch oder Geschmack eines Dinges, dessen Form, Farbe oder Ton mit meinen Sinnen einfach wahrnehme (percipie), so empfinde ich diese Qualität; wenn Wehmuth, Hoffnung, Frohsinn oder Haß mich merkbar über den gewöhnlichen Seelenzustand emporheben oder unter denselben herabdrücken, so fühle ich. (In dieser Begriffsbezeichnung stimmen die älteren Philosophen mit den neueren Physiologen überein, und wir mußten sie unbedingt den Benennungen der Hegel’schen Schule vorziehen, welche bekanntlich innere und äußere Empfindungen unterscheidet)." Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst S. 4

(7) Feuerbach: "Wenn also auch gleich das ‚Ich denke‘ sich vom Leib unterscheidet, folgt daraus, daß auch das ‚Es denkt‘, das Unwillkürliche in unserem Denken, die Wurzel und Basis des ‚Ich denke‘, vom Leib unterschieden ist? Woher kommt es denn, daß wir nicht zu jeder Zeit denken können, daß uns nicht die Gedanken nach Belieben zu Gebote stehen, daß wir oft mitten in einer geistigen Arbeit trotz der angestrengtesten Willensbestrebungen nicht von der Stelle kommen, bis irgendeine äußere Veränderung, oft nur eine Witterungsveränderung die Gedanken wieder flottmacht?" Nietzsche wird später ganz parallel sagen: "Es denkt" – und diesen Gedanken so verschärfen, daß ein Mensch, wenn er zeit seines Lebens dem falschen Klima ausgesetzt sei, wohl gar seine Bestimmung verfehlen könne. Auch ließe sich hier der Italien-Sehnsucht der Deutschen gedenken ...

(8) Nietzsches Interpretation der Antike ist allerdings höchst subjektiver Art und kann keine Allgemeingültigkeit beanspruchen: Hochschätzung bringt er ihr nur bis einschließlich der Vorsokratik entgegen; mit der griechischen Troika Sokrates, Platon und Aristoteles setzt er einen Bruch an, mit dem der im negativen Sinn moderne Mensch auf den Weg gebracht worden sei.

(9) Für seine Auffassung wird ihm Anaxagoras (500-428 vC) zum Gewährsmann, denn "[er] erklärte ja die empirische Welt nicht für Schein, hatte also auch keinen Grund, die Sinne als Lügen- und Trugpropheten zu bezeichnen. Insofern sie uns die wahren Qualitäten zeigen, sind sie wahr ... Der Intellekt, den Parmenides auseinandergerissen hatte, wurde von Anaxagoras wieder zusammengeklammert."

(10) "Noch immer lebt der uralte Wahn, dass man wisse, genau wisse, wie das menschliche Handeln zustande komme ... Ist es nicht gerade die ‚schreckliche‘ Wahrheit: dass, was man von einer That überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu thun, dass die Brücke von der Erkenntnis zur That in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals Das, als was sie erscheinen! ... alle Handlungen sind wesentlich unbekannt."

(11) "Und wißt ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt ist ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom ‚Nichts‘ umschlossen als von seiner Gränze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raume eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ‚leer‘ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ‚Vieles‘, hier sich häufend und zugleich Dort sich mindernd, ein Meer in sich selbst stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten ..."

(12) Hier wird von mir dennoch der Feuerbachschen Auffassung der Vorzug zu geben, auch wenn sie in ihrem Ausbleiben des Hinterfragens der Empfindung naiv bleibt anstatt auch noch – wie Nietzsche – deren Bedingtheit in den Blick zu nehmen. Gehen wir von der Feststellung aus: Wenn zwei dasselbe sehen, so sehen sie nicht dasselbe. Wie ist das zu begründen? Nietzsche nimmt hier eine vollständig subjektive Interpretationstätigkeit der Sinne an, die über die Empfindung dem Bewußtsein übermittelt wird; Feuerbach geht von einer Art Mitte zwischen Gegenstand und sinnlicher Interpretation aus; letzterem ist zuzustimmen, denn jede Interpretation baut auf genetischen, epigenetischen und milieubedingten Vorkonditionierungen auf, die den Rahmen der möglichen Interpretationen bilden, in den ebenfalls bereits Welthaftigkeit im "Leib" des Individuums Einzug gehalten hat. Es werden also in Wirklichkeit aktuelle sinnliche Reize der Welt interpretiert anhand von gespeicherten Mustern ebenderselben Welt. Und auch die Bewertung dieser Reize steht nicht dem Individuum selbst frei, auch nicht seinem "Leib", sondern ist in ebenderselben Weise bedingt wie die Reizkonditionierungen selbst – Bewertungsmuster bis einschließlich zur Emotio sind genetisch vorgegeben, der "Leib" "weiß", welche Bandbreite von sinnlichen Reizen ihm zuträglich und welche abträglich sind. Die reflexive Emotio erst eröffnet das Lernen, indem hier empfindendes Selbstbewußtsein auftritt, lernt aber auch hier wieder "Welthaftigkeit", indem der größte Teil des Lernens auf Nachahmung und kultureller Prägung durch die Umwelt beruht. Den zwar glänzenden, jedoch in "Fensterlosigkeit" endenden Nietzscheschen Analysen der Empfindungsstruktur ist die zwar naive, aber im Ergebnis richtigere Auffassung Feuerbachs deshalb vorzuziehen.



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