Die "Unsichtbare Hand" im Menschenpark

Vortrag beim Wochenendseminar der Thomas-Dehler-Stiftung
in Fischbach b. Nürnberg vom 17.-19. März 2000 zum Thema

Ist der Humanismus tot?

Die Sloterdijk-Habermas-Debatte

von Helmut Walther


Hier soll von diesem sichtbar-unsichtbaren Phänomen die Rede sein, das Adam Smith für die ökonomischen Abläufe mit der berühmten "Unsichtbaren Hand" umschrieb; gemeint ist damit bekanntlich, die verschiedenen auf den Markt wirkenden Faktoren nicht planend zu steuern, sondern sie ihrem freien Spiel zu überlassen, wodurch sich "wie von selbst" die günstigste Anpassung ergeben würde. Dieses nämliche Phänomen zeigt sich meiner Auffassung nach ganz ebenso in der traditionsbildenden Tätigkeit des Menschen, und selbst Peter Sloterdijk nimmt in den "Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus" unter der etwas verquasten Bezeichnung einer "subjektlosen biokulturellen Drift" – zumindest zunächst – von dieser Tatsache Kenntnis.

Ähnlich wie sein die Höhenluft liebender Gewährsmann Nietzsche, der seine Zarathustra-Blitze von den – zugestandenermaßen sehr eindrucksvollen – Silser Bergen, "fünftausend Meter über dem Meer" schleuderte, hat Herr Sloterdijk damit nach seinen eigenen Worten die Frage nach dem Menschen "auf höchster Ebene" stellen wollen – wo es daher auch recht wolkig-neblig zugeht –, und dies ganz offenbar, um auch noch das Wirken dieser "Unsichtbaren Hand" zu überschauen und in die eigene Verfügungsmacht zu bekommen.

Dazu stellt er mit Nietzsche und Heidegger die Behauptung auf, daß der hergebrachte Humanismus, der auf die Selbstzähmung des Menschen abgezweckt habe, zum Inhumanen geführt habe und gescheitert sei. Daraus leitet er nicht nur das Recht, sondern gar die Pflicht ab, dieser "subjektlosen Drift" der "Unsichtbaren Hand", die mit dieser Selbstzähmung nur die Kleinzüchtung des Menschen bewirke, in den Arm zu fallen, und so kommen ihm die (angeblichen) Möglichkeiten der "Anthropotechniken" gerade recht, um "in der Lichtung des evolutionären Horizonts" auf die Großzüchtung umzuschalten. Lange vor seiner "Menschenpark"-Rede zitiert er bereits 1990 zustimmend den amerikanischen Autor Leon Festinger(1):

Eine neue Spezies, die von der unseren nicht verschiedener wäre als wir vom Homo sapiens [also nur geringfügig, Zusatz P.Sl.), könnte, wenn sie über mehr Einbildungskraft, eine effizientere Sprache und ein sie zum raschen logischen Denken befähigendes Nervensystem verfügte, mit den von uns geschaffenen technischen Zivilisationen fraglos sehr viel besser fertig werden. Die Entwicklung einer solchen neuen Spezies hinge keineswegs von umfassenden Mutationen zahlreicher Strukturgene ab. Wahrscheinlich würden einige scheinbar geringfügige Abänderungen der Aktionsmechanismen der Gene völlig genügen...

Die Frage lautet demnach, ob im Fall solcher Modifikationen genetischen Materials ein natürlicher Ausleseprozeß diese neue Gattung befähigen würde, die Herrschaft anzutreten... Meine eigene Begrenztheit macht es mir unmöglich, diese Frage auf irgendeine mich überzeugende Weise zu beantworten. Ich vermag nicht einmal zu erkennen, ob sich derzeit überhaupt irgendwelche Ausleseprozesse in der Menschheit vollziehen und wenn ja, in welche Richtung sie tendieren. Ich hoffe jedoch, daß sie stattfinden. Ich hoffe, daß in fünf- oder zehn- oder zwanzigtausend Jahren eine neue uns an Leistungsfähigkeit überlegene menschliche Spezies existeren wird«

Aus diesem Zitat wird zunächst zweierlei deutlich:

– Slotderdijk läßt sich kritiklos auf den Irrweg einer genetischen Modifikation der epigenetisch-kulturellen Interpretation der Welt durch den Menschen locken.

– Es ist keineswegs so, wie er später behauptet, daß er lediglich einer individuellen "Optimierung" und negativer Eugenik das Wort redet, vielmehr geht seine "prophetische Phantasie" mit ihm durch, um die Spekulationen des Amerikaners sofort zu überbieten, wie wir noch sehen werden.

I. Der Humanismusbegriff Sloterdijks ist einseitig.

Problematisch ist zunächst der von Sloterdijk verwendete Begriff "Humanismus", den er folgendermaßen definiert: "Humanismus als Wort und als Sache hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei." Diese "vielsagende" Definition enthält nun einerseits zu viel an Gehalt, andererseits viel zu wenig. Schauen wir uns dazu erst einmal an, was denn gängigerweise unter dem Begriff "Humanismus" verstanden wird(2): "... ein reflektierender Anthropozentrismus, der vom menschl. Bewußtsein ausgeht und die Wertsetzung des Menschen zum Objekt hat, – unter Ausschluß dessen, was ihn sich selbst entfremdet, entweder indem es ihn übermenschlichen Mächten und Wahrheiten unterwirft oder indem es ihn untermenschlichen Zwecken nutzbar macht.– Humanitas nannten schon die Römer, besonders Cicero, die ethisch-kulturelle Höchstentfaltung der menschlichen Kräfte in ästhetisch vollendeter Form, gepaart mit Milde und Menschlichkeit. H. nannte sich sodann die der Scholastik und der geistigen Vorherrschaft der Kirche mehr und mehr entgegentretende Bewegung, welche zu Beginn der Neuzeit das Ideal der rein menschlichen Bildung und Haltung aus den neuentdeckten Werken der Alten zu gewinnen suchte."

Auf den ersten Blick ist ersichtlich, daß diese geläufige Definition mit der von Sloterdijk nicht zur Deckung zu bringen ist, da dieser, wie auch der gesamte Kontext seiner Rede zeigt, darunter vor allem eine negativ zu bewertende "Kleinzüchtung" durch Zähmung versteht, wohingegen im recht verstandenen Humanismus neben der Milderung der "wilden" Bestandteile des Menschlichen als Ethik vor allem überhaupt erst das positive Hervorbringen des Menschlichen aus der Perspektive der Vernunft angestrebt wird. Alle diese positiven Anteile des neuen Selbstverständnisses des Menschen, das Humanismus und Renaissance gegen das Christentum in die Tradition des Abendlandes zurückhievten, blendet Sloterdijk aus, um sich auf "das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei" beschränken zu können. Mißverständlich scheint dabei auch der Begriff der "Zurückholung", der einen "nichtbarbarischen" Vorzustand voraussetzen würde und es nahelegt, daß vor den Zeiten des "Humanismus", wie ihn die Antike hervorbrachte, eine Art noch "humanerer Zustand" geherrscht haben soll, wie ihn Nietzsche bereits in seiner "Geburt der Tradgödie" intendiert. Nicht umsonst soll ja an Hand des Heideggerschen Humanismusbriefes belegt werden, daß die gesamte Geistesgeschichte seit und einschließlich der Antike und des daraus herstammenden Humanismus ein Fehlgriff gewesen sei – und so eröffnet sich Sloterdijk mit Heidegger einen "trans-humanistischen oder post-humanistischen Denkraum", um den bislang gültigen ethischen Maßstäben zu entgehen.

Deshalb wird sowohl der antike als auch der neuzeitliche Begriff der "Humanitas" ganz bewußt eingeschränkt und ebenso diffus denunziert wie schon bei Nietzsche: Dieser läßt die antike Philosophie bekanntlich nur bis einschließlich zu den Sophisten gelten, wohingegen er die ethischen Aussagen von Sokrates, Platon und Aristoteles mit den "Heerdentugenden" des Christentums zusammenwirft und verurteilt.

Aus evolutionärer Sicht, wenn wir eine solche in Bezug auf den Menschen als epigenetisch-kulturelle Koevolution gelten lassen, entwickelt sich der Humanismus als Ethik der Vernunft aus einem einzigen Grundgedanken heraus, der die griechische Philosophie insgesamt und einschließlich des genannten Dreigestirns ausmacht: aus der abstrahierenden Einsicht in das Wesen der Dinge mittels Reflexion der Daten des Verstandes durch und als Vernunft. Erst damit wurde der abstrakte Vernunftschluß möglich, mit dem die Konstatierung des gleichen Wesens aller Menschen unausweichlich und zur Grundlage des Humanen wurde(3). Mit dieser Vernunft erfuhr der Mensch, wie sich an allen kulturellen Phänomen zeigt, sich selbst und die Welt völlig anders als mit dem Verstand allein – wenn von einer "Umwertung aller Werte" in der Menschheitsgeschichte die Rede sein kann, dann fand sie damals statt. Erst seit dieser Zeit bezieht sich der Mensch auf einen allgemeingültigen Humanismus und die Gleichheit der Individuen, wo unter der Leitung des Verstandes die jeweilige Volkszugehörigkeit und die Rangunterschiede unter den Individuen den Ausschlag gaben. Die Bedeutung der Erkenntnis des Humanen durch die Vernunft geht also über eine bloße domestizierende Zähmung weit hinaus.

Aus diesen Überlegungen heraus läßt sich dem Angriff Sloterdijks auf Habermas und die "Kritische Theorie" insgesamt eine "gewisse" Konsequenz nicht absprechen: in seiner Ablehnung des Humanismus teilt er, ohne uns dies allerdings zu sagen, eine Vernunftkritik, wie sie bereits von Horkheimer und Adorno mit der "Dialektik der Aufklärung" durchgeführt wurde – auch diesem "Hauptwerk" der Frankfurter Schule ist ja eine antirationalistische Tendenz im Unbehagen gegenüber der instrumentalisierten Vernunft keinesfalls abzusprechen(4). Demgegenüber steht Habermas mit seiner "Diskursethik" fest auf dem Boden einer Vernunft, die sich selbst zu kritisieren vermag, und eben damit sich in jener Weise des "Trial and Error" der verschiedenen Versuche äußert, in der alle Stimmen einer Gesellschaft hörbar werden können – eine Paralle dazu wie Natur selbst und der handelnde Mensch bislang Evolution und kulturelle Tradition ausbildeten.

Dieses Für-Möglich-Halten des Hervorbringens von weiterführenden Beiträgen auf der Basis der kritisierenden Vernunft durch Habermas wird von Sloterdijk als "Tugenddiktatur" und "Jakobinismus" denunziert und damit einseitig als Ausdruck der Zähmung des Menschen durch den Menschen bewertet; und so meint er schließlich, die "Kritische Theorie", "die mürrische alte Dame", aufatmend mit dem 2. September 1999 für tot zu erklären können – dieses "Aufatmen", das sich Erleichterung von der Vernunft verschafft, ist sehr verräterisch, und es entstammt ganz anderen Sphären als dem Denken, wie uns Sloterdijk doch weismachen will!

1. Feststellung: Sloterdijk geht von einem unzulässig eingeschränkten Humanismus-Begriff aus, um den folgenden Schluß ziehen zu können:

II. Ist der Humanismus gescheitert?

Nur unter der genannten Begriffseinschränkung läßt sich die Aussage aufrechterhalten, daß der Humanismus als "das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei" gescheitert sei, wie das gerade vergangene Jahrhundert auf den ersten Blick schlagend zu beweisen scheint. Aber auch hier noch müssen Fragen gestattet sein, ob das, was Sloterdijk ebenso glatt von der Zunge geht wie Heidegger, denn auch wahr sei? Ist es wirklich der Humanismus, der hier gescheitert ist? Ich darf dazu die Stellungnahme eines Internet-Korrespondenten zitieren, mit dem ich mich über diese Thematik austauschte, und der ich voll zustimme:

  • "Jeder, der den Humanismus für beendet erklärt oder ihn als Zähmung der Menschen bewusst diffamiert, macht sich des fürchterlichsten aller Verbrechen schuldig. Er subventioniert die latente Tendenz zu totalitären Ansichten und implementiert ein irgendwie geartetes Ziel der Geschichte, dem alle anderen Aspekte einschließlich des Humanismus unterzuordnen seien. In der gleichen Weise wie ein Bild der Geschichte gezeichnet wird, das es nie gegeben hat, z.B. die Geschichte der politischen Macht und ihres Missbrauchs oder die Geschichte der philosophischen Ideen, wird der komplementäre Aspekt jeder einseitigen Interpretation oder Erdichtung von Gesamtgeschichte vergessen hinzuzufügen. Die Geschichte der Menschen und ihrer Taten und Ideen ist eben nicht nur die Geschichte der Potentaten und Herrscher, die mit Gewalt und Tyrannei regierten, sondern auch immer die Geschichte des Kampfes gegen die Gewalt und gegen die Unterdrückung.

  • Es ist nur allzu wahr, dass die Menschen dazu neigen, ... die Macht anzubeten und sich ihr kritiklos allzumal unterzuordnen. Jedoch sind solche sozialen Verhaltensmuster einer komplizierten biologischen Entwicklung zu schulden, die nur darum niemals abriss, weil sie von Anbeginn mit Kompromissen leben musste. Die humanistische Idee ist eine relativ junge biologische Etappe, die mit der Entwicklung der Vernunft einhergeht. Wie kann sie Schuld daran sein, wenn die übermächtigen Instinkte des Menschen, seine natürliche Xenophobie, eine in Unvorteilhaftigkeit umschlagende altruistische Überlebenshandlung und ein latent wirkender Gruppenzugehörigkeitscodex, der aus weit zurückliegenden biologischen Etappen der Lebensentwicklung stammt, diese Idee immer wieder erfolgreich torpedieren können. Mit dem archaischen Material des Gehirns hatten und haben alle rhetorisch begabten Demagogen leichtes Spiel, weil sie immer nur wieder und wieder diese nicht versiegen wollenden prähumaniden und junghumaniden Instinkte anzusprechen brauchen. Sie lassen sich mit Leichtigkeit erzeugen und sie lauern oft unter der Oberfläche scheinbar harmloser Argumente. So konnte in einem Land, das große Gelehrte und Künstler hervorbrachte, die Idee der Euthanasie nicht nur aufkeimen, sondern sogar umgesetzt werden, konnten Millionen wegen ihres Glaubens umgebracht und die Lehre einer Reinheit des Blutes wiederbelebt werden.

  • Die Idee des Humanismus ist immer wertvoll gewesen und auch heute noch ein nicht wegzudenkendes Reflektorium, dem die unabweisliche Verantwortung zukommt, dass das Werk der Gewalt und die Taten des Tyrannen niemals gewöhnlich werden können und niemals für sich allein stehen, weil es keine besseren Konzepte gäbe! So ist der humanistische Gedanke nicht nur warnender Begleiter jeder totalitären Konzeption sondern auch immer eine echte Handlungsalternative, eine normative Richtschnur für die Verhinderung des Schlimmsten."

Das immer wieder zu beobachtende Hervortreten atavistischer Handlungsantriebe, die wir als vormenschliche mit den Tieren teilen, konträr zum Humanismus im Namen von untermenschlichen Zwecken, sagt noch lange nicht, daß der Humanismus selbst falsch oder gescheitert sei.

Zu fragen wäre weiterhin: Setzt eine solche Bewertung des "Scheiterns" nicht bereits ein "Besserwissen" voraus? Ist das nicht nur die subjektive "Erkenntnis" des "Herzlich Schlechten" aus anthropozentrischer Perspektive? Könnte es nicht noch viel schlechter sein – vor allem ohne den Humanismus? Woher nimmt Sloterdijk ein solches "Besserwissen", wenn er

"auf eine intelligentere Menschheit im ganzen zielt, nicht auf eine neurobiologische Apartheid oder eine Klassenherrschaft der Intelligenzmutanten über die Altmenschen heutigen Typs. ... Das Schlimmste ist möglich, aber auf jeden Fall nichts Schlimmeres als das, was geschieht, wenn es keine Selektion von intelligenteren und generöseren Menschen gibt."(5)

So, wie hier Sloterdijk in der Fortführung des obigen Zitats zu Festinger, sagten es noch alle Erlöser, die für die von ihnen verkündete Zukunft die Gegenwart und die in ihr lebenden Menschen nur zu bereitwillig opferten.

2. Feststellung: Der Humanismus ist nicht gescheitert, vielmehr sind die ihm inhärenten Prinzipien der Vernunft noch nicht weit und wirksam genug global in die Tradition der Menschheit eingegangen. Statt ihn abzuschaffen gilt es im Gegenteil, stets an seiner weiteren Ausstrahlung mitzuwirken.

III. Was können wir vom Humanismus heute erwarten?

Der Mensch und seine Kultur sind nach jetzigem Wissensstand aus der Evolution des Lebens hervorgegangen, entstanden nach den bis heute gültigen Paradigmen aus dem Wechselspiel von Mutation und Selektion; diesen Tatbestand beschreiben wir für die kulturelle Evolution – dort, wo der Mensch "im Hause der Sprache west", wie Heidegger sagen würde – als "Trial-and-Error-Verfahren"; das heißt, wir sehen uns genötigt, diejenigen neuen Verfahren und Theorien, die wir finden und erfinden, an der Wirklichkeit zu prüfen, ganz genau in derselben Weise wie es die Natur tat, um schließlich uns selbst hervorzubringen.

Das bedeutet aber, daß wir Menschen als Teil dieser Natur diesem "Mechanismus", der uns einst selbst hervorbrachte, in unhintergehbarer Weise ausgeliefert sind: der Teil kann nicht dasselbe oder gar mehr sein als das Ganze, dessen Teil er ist.

Diese Beobachtung formulierte schon Adam Smith zu seinem Prinzip der "unsichtbaren Hand" im freien Spiel der Marktkräfte, welches nichts anderes bedeutet als jene oben bereits geschilderten Prinzipien auf dem Gebiet des Wirtschaftens. Dieses Prinzip bietet in beiden Fällen den Vorteil, daß durch die verschiedensten Versuche in alle gangbaren Entwicklungsrichtungen nicht eine einzige Möglichkeit, sondern immer mehrere gleichzeitig getestet werden mit der Möglichkeit der jederzeitigen Zurücknahme und der Änderung des Weges. Hingegen erhöht ein nicht rücknehmbares Setzen auf eine einzige Karte, wie etwa die Veränderung des Genoms des Menschen durch den Menschen, das Risiko des Scheiterns ganz immens.

Ein kühl planender Akteur wird am Roulette-Tisch seinen Einsatz im Hinblick auf die verschiedenen Chancen streuen, hingegen setzt eine leidenschaftliche Spielernatur auf das Alles oder Nichts der einen Zahl: Sloterdijk geriert sich als Spieler und Hasardeur, der das Anliegen des Humanismus bewußt verzeichnet, um das Höchstrisiko des Alles oder Nichts als die einzige Alternative vorstellen zu können.

Daraus läßt sich auch entnehmen, daß – jedenfalls auf überschaure Zeit – die Zukunft jener von Habermas propagierten "Diskursethik" gehören wird, die ja keineswegs etwas Neues ist und etwa auch das Wesen der Demokratien ausmacht: der Wettstreit von Parteien ist (oder sollte doch sein) immer vor allem auch ein Wettstreit von Ideen, die zur Bewältigung der Zeitanforderungen bereitstehen und diesen entsprechend zum Zuge kommen – oder nicht.

Allerdings, und insoweit ist die häufig geäußerte Kritik an Platon berechtigt, hatte die Antike die Frage des Humanismus tatsächlich falsch gestellt: Was ist der Mensch, diese Frage zielte von Anfang an auf ein Idealbild des Menschen und seiner Gesellschaftsverfassung, ohne auf die Realität in gehöriger Weise Rücksicht zu nehmen. Die Frage nach dem Wesen des Menschen müßte vielmehr lauten: was sind die Menschen! Gefragt ist nicht eine ideale bzw. ideologische Typologie des Menschen "an sich", wie sich so mancher Denker vorstellt, wie der Mensch "am besten" zu sein habe. Vielmehr erlaubt erst die phänomenologische Erfassung der kategorialen und kulturellen Verschiedenheit der Menschen und deren theoretische Einordnung auf epigenetisch-kultureller Basis einen Humanismus, in dem sich alle Menschen finden können – und der nicht einen bestimmten Typ als für alle maßgebend aufstellt – modern gesprochen: die Akzeption einer pluralistischen Menschheit.

Indem jedoch Sloterdijk für die Zähmungsinterpretation nirgends die menschliche Realität der Geschichte, sondern als seine "Gewährsleute" lediglich Platon, Nietzsche und Heidegger heranzieht, bleibt seine Auslegung selbst ausschließlich metaphysisch. Hätte Sloterdijk realistisch argumentiert, so hätte er insbesondere auf die "Züchtungsüberlegungen" im 19. Jahrundert seit Darwin und insbesondere auf die Eugenik im 20. Jahrhundert einzugehen gehabt, die glaubte, das "Humanum" an äußeren Merkmalen "vermessen" zu können, um auf diesem Wege "rassische Verbesserungen" herbeizuführen, häufig finanziert von den Amerikanern – auch noch der Rassenwahn des Dritten Reiches konnte sich bis 1941 amerikanischen Geldes bedienen! Vielleicht wäre es Sloterdijk bei einer solch realistischen statt ausschließlich metaphysischen Sicht nicht so leicht gefallen, ins Reich der "Big-Thinker" abzudriften, um der Selektion durch "Großzüchtung" das Wort zu reden.

"Humanismus" als "Zähmung" zu definieren ist mithin aus zweierlei Gesichtspunkten heraus falsch, weil hier die Entwicklung der Vernunft einseitig (und dies schon bei Nietzsche, hier in Gegnerschaft zu Platon) als "Verkleinerung", "Schwächung" interpretiert wird:

a) Einmal wird damit die Ethik der Vernunft verleumdet als Schwächung des Menschen, die letztlich zum "Inhumanen" führe und gleichzeitig den Menschen "verkleinere".

b) Zum andern werden die Positiva der Vernunftentwicklung, die das heutige Menschsein ausmachen, vollständig ausgeblendet, die insbesondere in der Formulierung der allgemeinen Menschenrechte zu finden sind, die auf eine gleichberechtigte Entwicklung von Völkern und Individuen abzwecken und das eigentliche Ergebnis des Humanismus sind.

Das "Humanum" als die Auswicklung der Evolution im jeweiligen phylogenetischen Zeitpunkt ist zugleich immer auch etwas "Offenes", etwas "Ungekanntes", und damit die Möglichkeit neuer Emergenz im Bereich des Menschen, der derzeit Träger der Evolution in Form einer epigenetisch-kulturellen Koevolution ist, wie zumindest alle bislang zugängliche Erfahrung zeigt.

Sloterdijk aber ist des weiteren, ihm wohl zu anstrengenden Suchens nach Modifikation der bisherigen Führung durch die "unsichtbare Hand der Tradition" müde, an deren Gängelband sich diese kulturelle Evolution der Menschen im Widerspiel zwischen innovativen Einzelnen und die Innovation "auslesenden" Gemeinschaften bislang bewegte; er selbst möchte zum "Macher" werden, er will sich vom Teil zum Beherrscher des Ganzen aufschwingen. Durch gentechnische Eingriffe in die Keimbahn des Menschen – so unsinnig und falsch hierin seine Vorstellungen und Kenntnisse auch sein mögen – will er die Steuerung dieser "unsichtbaren Hand" in die eigenen Finger bekommen, hierin getreulich seinem Lehrmeister Nietzsche folgend, der bereits diese Zufallsabhängigkeit der menschlichen Entwicklung beklagte und forderte, daß der Mensch seine "Zuchtziele" sich selbst setzen müsse, wenn er nicht untergehen wolle.

Es wird aber wohl aus dem Gegenteil erst ein Schuh: Da der Mensch systembedingt die Richtung einer weiteren Entwicklung seiner selbst nicht kennen kann, wird er, wenn er hier ohne leitende Prinzipien steuern möchte, diesen Untergang, auf dessen Vermeidung damit abgezweckt wird, um so eher bewirken, als dadurch all jene Ausweichmanöver, die eine schrittweise und in alle Richtungen tastende Versuchsbewegung erlaubt, nicht vorhanden sind, weil solch ein "Führer" ja nur auf eine einzige Karte gesetzt hat.

So könnte man zu der Meinung kommen, es sei dann wohl besser, in dieser Richtung der menschlichen Entwicklung die eigenen Hände besser in den Schoß zu legen und dies jener "unsichtbaren" zu überlassen, die insbesondere unsere Märkte und Moden so wirr "lenkt", daß deren "Steuerung" auch von Wohlmeinenden eher einem Spielcasino als einer sinnreichen Entwicklung verglichen wird.

Kanitscheider etwa scheint einer solchen Auffassung des passiven Zuwartens zu sein, wenn er angesichts dieses Dilemmas eine epikureische Lebenshaltung und das sich Begnügen mit dem "kleinen Sinn" der eigenen "Glückseligkeit" empfiehlt – womit denn unausgesprochen ein sich Anheimstellen unter das Wirken jener "Unsichtbaren Hand" empfohlen wird, wenn die "Suche nach dem Sinn" im Rückzug auf die Individualexistenz ausgeblendet wird.

Andere, wie etwa Safranski, meinen, der Mensch müsse sich hier vor dem "Ungeheuren" der Natur zurückhalten, wieder andere sprechen von einer offenbar vorrangigen "Naturwüchsigkeit" – beides problematische Mystifikationen, die im "myeîn" – also im Augenschließen – einer rationalen Erhellung im Wege stehen.

Heidegger nannte diese "unsichtbare Hand" das "Seyn", das er in seiner "Ungekanntheit" gar nurmehr durchgestrichen zu schreiben wagte, auf dessen "Anspruch" der Mensch "im Haus der Sprache" – gebaut in die "Lichtung" – warten solle; selbstgemachte Ethik ist ihm nurmehr ein vorschnelles und verfehltes "Gemächte"; diese Haltung ist psychologisch verständlich, da er sich selbst beim eigenen Zugriff auf diese "unsichtbare Hand" böse vergriffen hatte, als er den "Führer" führen wollte – nur zu gern schiebt er nun den eigenen Irrtum der ganzen Spezies unter und exkulpiert sich so.(6)

Falls erforderlich, kann ich Ihnen in der Diskussion gerne noch Einiges aus der Heideggerschen Darlegung der Humanismusfrage "zum Besten" geben, die sich auf Nietzsche zurückberuft und Grundlage auch der Sloterdijkschen Einstellung ist.

Alle Schritte (ich sage bewußt nicht Fortschritte) der Menschheit wurden jedoch nicht durch abwartende Mystifikation hervorgebracht, sondern dadurch, daß einzelne Menschen in Denken und Taten sich von der entgegengesetzten Haltung leiten ließen: Sie nahmen die in der Natur wirksame "lebendige Bewegung" der Evolution und der epigenetisch-kulturellen Koevolution des Menschen für sich auf, um in ebendemselben Trial-and-Error-Verfahren herauszufinden, ob nicht mehr aus dem Leben herauszuwinden sei als jenes "kleine Glück" – dies sind die Figuren, die sich unserer Tradition im Schlimmen wie im Guten eingeprägt haben und die Geschichte des "Humanen" (neutral gesehen) ausmachen.

Dabei sind wir keineswegs verurteilt, diesen "unsichtbaren Händen", wie sie in Natur, Wirtschaft und Kultur (un-)sichtbar sind, untätig zuzusehen, uns dabei ins "kleine Glück" zurückziehend. Denn ob er will oder nicht, wird der Mensch jene Trials unternehmen, die Natur bis zu ihm selbst hin unbewußt vornahm. In Frage steht nur, ob wir uns weiterhin dieser "Bewußtlosigkeit" unterstellen, oder ob wir versuchen, dieses Prinzip der "Unsichtbaren Hand" soweit immer möglich rational zu verstehen und bewußt handzuhaben. Es steht als nicht in Frage, dieses Prinzip zu verändern, wie Sloterdijk will, sondern es in Erhellung durch und in Übereinstimmung mit unserem derzeit höchsten Interpretationsvermögen Vernunft anzuwenden.

Sloterdijk jedoch ist hier einer verbreiteten intellektuellen Haltung verwandt, die sich auch schon in Botho Strauߑ Bocksgesang äußerte – müde der Beharrlichkeit einer arbeitsamen Ratio, die notwendig selbst immer wieder auch negatives Geschehen hervorbringt, wollen beide den "Gordischen Knoten" wie Alexander mit dem Schwert durchschlagen – sie wollen ausbrechen, weil sie wie Faust die Welt ausschließlich als "herzlich schlecht" einschätzen. Dagegen wäre nun gar nichts zu sagen, da genau solches ja zum Wechselspiel des Lebens gehört – aber sie tun dies beide in einer jeweils ausgrenzenden und elitären Weise, die nicht das Ganze des Menschlichen ins Auge faßt, sondern dem ungekannt Werdenden einseitig vorgreifen will: daher die solchem Denken immer wieder innewohnenden "faschistischen" Tendenzen, insofern es Kennzeichen alles Faschismen war (und ist), einen Teil für das Ganze zu nehmen und diesen auf Kosten des Ausgegrenzten zu erhöhen. Nicht umsonst reimt Sloterdijk die Selektion auf die Lektion, und nimmt "generös" wie einst Himmler schlimmste Leiden der Gegenwart für eine erträumte Zukunft in Kauf: Idealistische Projektionen ganz parallel zum christlichen Jenseits, nur daß diese in ein imaginäres Diesseits phantasiert werden – mit ebenso schrecklichen Folgen.

Zur Begründung ihrer elitären Forderungen an die Zukunft werden bei Sloterdijk ganz ähnlich wie bei Strauß anonyme geschichtswaltende Mächte, sei es "die Linke", sei es "die Gesellschaft", seien es "die Medien" verdächtigt, Auslöser einer drohenden apokalyptischen Katastrophe zu sein, ohne doch Roß und Reiter konkret zu benennen: die "Geschichte" – und damit doch wieder jene "unsichtbare Hand" – ist es bei Strauß, die nicht aufhört, "ihre tragischen Dispositionen zu treffen" – eine deutliche Parallele dazu, was Sloterdijk als das Scheitern des Humanismus bezeichnet. Ein solch mystisch kündendes Prophetenamt kennzeichnet seit Hölderlin, Nietzsche, Heidegger den deutschen Geist – statt die Notwendigkeit und gleichzeitig die Verantwortung der Menschen auch für diese gesellschaftlichen Phänomene und deren Geistbedingtheit zu verstehen und einzuordnen zu versuchen. Solche Propheten haben vielleicht ihre Schönheiten als Dichter, deswegen sind sie aber noch lange keine Deuter! Besteht Intellektualität nicht vor allem darin, Zusammenhänge zu sehen und klar auf den Begriff zu bringen? Sloterdijk und Strauß geben mit ihrem dunklen Geraune dabei das genaue Gegenbeispiel: Anstatt für die Masse der Menschen die Zusammenhänge des Seienden zu erhellen, wird verdunkelt, werden Tragödien verkündet. "Incipit tragoedia" ("der Bocksgesang beginnt") heißt es schon in der "Fröhlichen Wissenschaft" – Strauß und Sloterdijk ahnen gar nicht, wie nahe sie Nietzsche in vielerlei Hinsicht stehen, von dem sie sich einerseits so beredt absetzen, um ihn nichtsdestoweniger in ihrem Sinne benutzen.

Solches Dichten, Deuten und Künden wirkt antiaufklärerisch, weil es in der Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen die Vernunft verrät, anstatt sie unter allen Umständen festzuhalten. Noch in jedem Zurück – sei es Hölderlins Hellasbeschwörung im geträumten "Arkadien", Nietzsches Künstler-Aristokratismus als schöner Schein der "blonden Bestie", Heideggers resigniertes Warten auf die "Lichtung des Seins" – liegt ein solcher Verrat der Vernunft durch die Vernunft, weil sie ihrer selbst überdrüssig ist, und genau dieser Verrat erst ermöglicht den Umschlag in mythisches beziehungsweise mystifizierendes und damit dämonisches "Denken", weil erst und gerade dann andere im Menschen liegende Antriebe die Oberhand über die Vernunft bekommen, atavistische Vorstellungen die Vernunft in ihren Dienst nehmen.

Ebenso verkehrt wie solche Rückwärtswendungen ist der Ansatz Sloterdijks mit seiner "Anthropotechnik", der mit Gewalt über den "falschen Humanismus" hinaus will und dazu auch noch an einer völlig verkehrten Stelle ansetzt, wenn dieser "big thinker" glaubt, mittels Eingriff in die menschliche DNA eine nicht mehr nur "zähmende" Veränderung der Menschen erreichen zu können; und der meint, den Menschen nach Maßgabe selbsternannter "Weiser" neu konstruieren zu können, womit denn die angebliche Fehlentwicklung der "unsichtbaren Hand" korrigiert werden soll.

3. Feststellung: Der Humanismus als Verkörperung der Ethik, die jeweils erreichten und höchstmöglichen menschlichen Maßstäbe entsprechend auf alles Seiende anzuwenden, ist unhintergehbar.

Wir können uns kulturell ebensowenig neu erfinden, schon gar nicht durch Genomveränderung, wie ebenso alle Materie und alles Leben immer und notwendig auf dem bereits Vorhandenen aufbaut und es schrittweise umbaut, und so im Trial-and-Error-Verfahren emergente Erfolge erzielt. Dem verdankt sich das Leben selbst ebenso wie die menschliche Ratio – und wir tun gut daran, eben diese Verhaltensweise beizubehalten.

Robert Musil etwa hat weiterführende Schlüsse längst gezogen, von denen man merkwürdigerweise bei unseren heutigen Intellektuellen nichts hört: "Ohne Zweifel war er [der "Mann ohne Eigenschaften"] ein gläubiger Mensch, der bloß nichts glaubte: seiner größten Hingabe an die Wissenschaft war es niemals gelungen, ihn vergessen zu machen, daß die Schönheit und Güte der Menschen von dem kommen, was sie glauben, und nicht von dem, was sie wissen. Aber der Glaube war immer mit Wissen verbunden gewesen, wenn auch nur mit einem eingebildeten, seit den Urtagen seiner zauberhaften Begründung. Und dieser alte Wissensteil ist längst vermorscht und hat den Glauben mit sich in die gleiche Verwesung gerissen: es gilt also heute, diese Verbindung neu aufzurichten. Und natürlich nicht etwa bloß in der Weise, daß man den Glauben ‘auf die Höhe des Wissens’ bringt; doch wohl aber so, daß er von dieser Höhe auffliegt. Die Kunst der Erhebung über das Wissen muß neu geübt werden. Und da dies kein einzelner vermag, müßten alle ihren Sinn darauf richten, wo immer sie ihn auch sonst noch haben mögen." [Hervorhebungen durch den Verf.]

4. Feststellung: Der Humanismus als das Verhalten des Menschen zu sich und zur Welt ist nicht durch gentechnische Maßnahmen, sondern durch eine Anpassung an neue Interpretationsmöglichkeiten der Welt wie seiner selbst durch sich selbst zu modifizieren.

IV. Einige hypothetische Andeutungen über eine mögliche weitere Entwicklung

Ausgangspunkt ist dabei die nämliche Feststellung, wie sie Nietzsche, Heidegger und Musil übereinstimmend auf ihre Weise treffen: daß die Vernunft des Menschen in gewisser Weise am Ende sei, und daß zunächst mit diesem "Ende der Metaphysik" das Zeitalter des "Nihilismus" heraufgezogen sei. In meiner evolutionär zurückbezogenen Sicht meint dies, daß offenbar das Rezeptions- und Reflexionsvermögen Vernunft sich ebenso wie einst der Verstand, über den sie selbst sich in diesem doppelten Gang erbaute, als Systemvernetzung durchreflektiert hat und diesen Zustand ihres eigenen "Endes" als "Nihilismus" interpretiert, da sie aus sich selbst nichts Neues im Hinblick auf eine übergreifende Interpretation des Seienden hervorzuziehen vermag.

In diesem Stadium dürfen wir nicht als Renegaten hinter die Vernunft zurück, sondern wir müssen unter striktem Festhalten an ihr über sie hinaus – und dazu können wir bei den Alten etwas lernen, wie diese in der Lage waren, die Vernunft über den Verstand hinaus zu eröffnen: mit den hellen Augen der Neugier des konzentrierten Verstandes fuhr Odysseus, der "schlaueste aller Menschen", zwischen Skylla und Charybdis – zwischen Tradition und phantastischem Denken – hindurch, löste der Hellene die erratische Direktbedeutung der Dinge auf, und entdeckte mittels einer rezipierenden Interpretation, die nur einem offen einlassenden und unvoreingenommenen Hinschauen möglich ist, in der Naturphilosophie das Wesen der Dinge und schließlich das gleiche Wesen aller Menschen, die Grundlage der Menschenrechte bis heute.

Daß heute unter allen Umständen das konzentrierte Festhalten an der Vernunft nötig ist, zeigt uns wiederum ein Blick auf die Alten: das Ent-Decken der Vernunft war nur möglich unter ständigem Festhalten des Verstandes, und so lautet noch heute das Hauptgesetz aller vernünftigen Aussagen und damit aller Wissenschaft, daß sich die Aussagen der Vernunft durch den Verstand überprüfen lassen müssen. Ebenso wird eine Transzendenz der Vernunft als epigenetisch-kulturelle Koevolution nur unter ständiger Hinsicht auf diese Vernunft (und eben damit im zweiten Schritt auch auf den Verstand und im dritten auf die Emotio) möglich sein – womit sich jedweder Verrat der Vernunft als Abirrung ausweist.

Es ist die Not und die Angst des Abendländers, der sich als der Typus der auf sich selbst beharrenden Vernunft als "Später" erlebt. Gleichzeitig aber erfährt sich der Mensch aus einem unbestimmten inneren Drängen heraus als das "unfestgestellte Tier", wie Nietzsche diese Selbstwahrnehmung des Fortzeugend-Lebendigen im Individuum nennt; es wäre ja auch geradezu merkwürdig und selbst schon wieder metaphysisch, apodiktisch mit der Auswicklung der menschlichen Vernunft das Ende der evolutionären Entwicklungsmöglichkeiten bzw. der epigenetisch-kulturellen Koevolution anzusetzen.

Und so zeigt sich das Neue bereits überall herandrängend – und wohl auch gerade in solchen gesellschaftlichen Phänomenen, die von Strauß und Sloterdijk so heftig beklagt werden, daß ersterer sich in den "hortus amicorum" wie einst Nietzsche zurückziehen und letzterer die Menschheit durch die "Großzüchter" genetisch umgestalten möchte. Beide werden allerdings, wie alle Mystagogen, den "Anspruch des Seins" verpassen: die Unvoreingenommenheit der Wissenschaft, wie sie sich in einem Einstein manifestiert, hat längst auf Phänomene im Seienden hingewiesen, die das Denken der Vernunft als Vernunft übersteigen, ebenso wie die rastlose Fortentwicklung der Technik Ergebnisse zeitigt, die neue Sehweisen und Erfahrbarkeiten des Seienden ermöglichen. Die Relativität von Zeit und Raum (Einstein), das Denken in synergischen Zusammenhängen und deren Versinnlichung in der Computer-Simulation, die mediale Verfügbarkeit und Gleichzeitigkeit des Wissens, das Aufklären von Strukturen als zeitgeschichteten Systemen, all diese Offenheiten des Seienden verweisen darauf, daß in ihm noch mehr verborgen ist, als sich unsere Vernunft träumen läßt. Die Griechen ergriffen die Chance, das Wesen des Seienden als Vernunft zu entdecken, wir aber sollen uns nach dem Willen solcher "Intellektueller" wie Strauß zurückwenden bzw. wie der berühmte Zauberlehrling genetische Veränderungen vornehmen, die wir nicht zum Stehen bringen können?

Wir stehen nicht an einer Stelle zur mystischen Umwidmung oder gewaltsamen Umschaffung des Menschseins, sondern an der Schwelle zu einer neuerlichen Rezeption mittels der Auswertung der Daten der Vernunft: Wie einst die griechische Naturphilosophie im Wechsel ihrer verschiedenen Theorien schließlich die Erkenntnis des Wesens der Dinge und damit die selbständige Konditionierung der Vernunft über den Verstand hinaus heraufführte, ebenso sehen wir heute den Wettstreit verschiedener Konzeptionen über die Beschaffenheit unserer Welt: Von der Relativitätstheorie zum "Urknall", vom Neben- und Nacheinander diverser Universen zu vieldimensionalen Stringtheorien im Makrokosmos ebenso wie durch die Quantenphysik im Mikrokosmos ist unser bisheriges Weltbild der Vernunft ins Wanken gebracht.

Wer aber nun meint, damit werde einer fröhlichen Wissenschaftsgläubigkeit und einem blinden Setzen auf Technik oder blankem Utilitarismus das Wort geredet, irrt völlig. Nicht umsonst war davon die Rede, daß eine solche Entwicklung, wenn sie denn eintreten sollte, des ständigen und schärfsten Hinsehens auf die Vernunft bedarf – was aber heißt das? Daß vor allem die Regeln der Ethik, die das Verhaltensgerüst der Vernunft allem Mitseienden gegenüber ausmachen, beobachtet werden müssen, weil sonst das Ausgreifen über die Vernunft hinaus ohne tragfähige Basis dastünde, sondern vielmehr, wie noch heute, viele Ergebnisse der Wissenschaftstätigkeit zu im Hinblick auf die Vernunft unterkategoriellen und damit inhumanen Zwecken mißbraucht werden: ohne globale Ethik keine Transzendenz der Vernunft. Die vielgescholtene mediale Vernetzung und Berieselung – deren negative Seiten keineswegs übersehen werden sollen – bietet hier ebenfalls eine Chance: Das Ethische im ständigen globalen Vergleich unausweichlich zu machen. Im übrigen ist die Beschimpfung des modernen Normalmenschen als Medienprodukt ebenso elitär wie dünkelhaft: Straußens und Sloterdijks Kenntnis ihrer Mitmenschen scheint selbst nur eine rein medial gewonnene zu sein, sonst würden sie die millionenfachen und aktiven Bemühungen vieler jener "Viel-zu­Vielen" – wie Nietzsche den Normalmenschen denunziert – um ein lebendiges und menschenwürdiges Miteinander, sei es im gesellschaftlichen oder privaten Bereich, nicht ohne jedes Anzeichen von mitmenschlichem Verständnis als "dumpf aufgeklärte Masse" verunglimpfen. Ihre Zuwendung gilt nicht den einzelnen Menschen, sondern dem "Großen und Ganzen" ... Wie Heidegger lieben beide im Menschen nicht die konkreten Individuen, sondern sehen sich dem Abstraktum einer verfügbaren Masse gegenüber.

Ist diese Welt nicht in der Lage, ihrem Zusammenwirken ein humanistisch-ethisches Fundament zu geben, so ist sie angesichts der Potenz der angewandten Vernunft in Forschung und Technik und deren immanenter Folgen dem Untergang geweiht. Der Utilitarist und der Ethiker, sie benötigen einander in gleicher Weise, wie der Verstand und die Vernunft im einzelnen Menschen aufeinander angewiesen sind. Die Zukunft wird davon abhängen, ob es der Menschheit in ihren führenden Schichten und in der Tradition gelingt, das Ethische ebenso zu verinnerlichen, wie der verstandesgemäße Nutzen jedem Menschen evident einleuchtet. Genau dies ist der Punkt, um der "Unsichtbaren Hand" in den Arm zu fallen, um das Bild des Humanen, wie es der Vernunft entspricht, bewußt in die Tradition einzuschreiben und mittels Vorbildern und Bildung allen Mitgliedern der Spezies zu vermitteln. Der Humanismus ist mithin keinesweg etwas, das wir als "vergilbten Brief" zu den Akten legen und den Archivaren überlassen können.

Anmerkungen:

(1) Veröffentlicht vom Institut für Kulturphilosophie Wien, aus dem Nachwort zu "Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, hrsg. v. P. Sloterdijk, Frkf. a. Main 1990, S. 726-729

(2) Philosophisches Wörterbuch, begründet von H. Schmidt, 18. Auflage, Alfred Kröner Verlag Stuttgart

(3) Diese Erkenntnis des "gleichen/ungleichen bzw. ähnlichen Wesens" macht die Evidenz der Vernunft aus, parallel dazu, wie sich die Evidenz des Verstandes auf den Nutzen/Schaden und diejenige der Emotio auf das Angenehme/Unangenehme gründet, wobei das jeweilige Vorvermögen die Bewertungen des jeweils übergeordneten Vermögens unterfüttert.

(4) Dialektik der Aufklärung S. 22: "Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst." S. 42: "Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression." S. 46: "Aufklärung ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird." Diese einseitige Auffassung der Vernunft als "Entfremdung von der Natur" enthält erstens einen falschen Dualismus: wie schafft es das Kind "Geist", sich von seiner Mutter "Natur" in solcher Weise zu entfernen, daß er gar "die Beseelung der Natur auflöst" (S. 64)? Und auch in dieser Entgegensetzung von Geist und Natur liegt schon ein (auch hier wohl von Nietzsche herstammender) Verrat der Vernunft, indem damit ebenso ihre positiven Ergebnisse, etwa als "Fetisch der Gleichheit", aufgegeben werden.

(5) s. Anm. 1

(6) Sloterdijk rekurriert insbesondere auf den Humanismusbrief Heideggers aus dem Herbst 1946, ein Antwortschreiben des letzteren auf Anfragen von Jean Beaufret, Paris, veröffentlicht zuerst 1947. Die hier einschlägige Frage Beaufrets lautet: "Auf welche Weise läßt sich dem Wort Humanismus ein Sinn zurückgeben?"

Heidegger verbindet in seiner Argumentation so dunkel wie kunstvoll zweierlei Themenkreise: erstens das Ende des inhumanen "Dritten Reiches", an dessen Beginn er in seiner Rektoratsrede so unrühmlich mitwirkte, und zweitens seinen "philosophischen Grundgedanken", die "Seinsvergessenheit" der griechischen Metaphysik. Letzteres will sagen, daß die Griechen, und darauf aufbauend in notwendiger Folge die gesamte abendländische Kultur, das "Sein" falsch, nämlich als "Wesen" gedacht hätten; der daraus hervorgehende "Humanismus" sei dann aber wiederum notwendig ebenso fehlerhaft gewesen und im Nihilismus (Nietzsche) und Inhumanem (Drittes Reich) gestrandet. Genau hier ist dann die Nahtstelle, wo er "Sein und Zeit" und seine Rektoratsrede wieder in einen Zusammenhang meint stellen zu können, um zugleich damit das philosophische Grundproblem der falschen Seinsgründung durch die Griechen zu lösen: wenn er sich dort gegen den "Humanismus" gewandt habe, so doch nur gegen einen solchen (angeblich) falschen Humanismus, der auf Grund seiner fehlerhaften Seinsbegründung bereits dies Scheitern im Nihilismus und Inhumanen in sich trage. Bereits damals, als er den "Führer" "führen" wollte, sei es ihm um eine völlig neue seinsgeschichtliche Weichenstellung gegangen, will er uns glauben machen – er stellt sich über die gesamte Geistesgeschichte der Vernunft seit 2500 Jahren und nimmt die Pose des Propheten vom Sein an, um "das Wesen des Menschen anfänglicher zu denken". Lassen Sie es mich mit Heidegger selbst sagen, wie er sich dies neuerliche Entbergen des Seins und damit die Gründung eines neuen Humanismus denkt, der nurmehr den Namen mit demjenigen teilt, was vormals unter Humanismus verstanden wurde (S. 40 ff.): "Der Mensch ist und ist Mensch, insofern er der Ek-sistierende ist. Er steht in die Offenheit des Seins hinaus, als welche das Sein selber ist, das als der Wurf sich das Wesen des Menschen in ‚die Sorge‘ erworfen hat. Dergestalt geworfen steht der Mensch ‚in‘ der Offenheit des Seins. ‚Welt‘ ist die Lichtung des Seins, in die der Mensch aus seinem geworfenen Wesen her heraussteht. Das ‚In-der-Welt-sein‘ nennt das Wesen der Ek-sistenz im Hinblick auf die gelichtete Dimension, aus der das ‚Ek-‘ der Ek-sistenz west." Erst aus solcher Steh- und Sehweise öffne sich die "Dimension des Heiligen", "die sogar schon als Dimension verschlossen bleibt, wenn nicht das Offene des Seins gelichtet und in seiner Lichtung dem Menschen nahe ist. Vielleicht besteht das Auszeichnende dieses Weltalters in der Verschlossenheit der Dimension des Heilen. Vielleicht ist dies das einzige Unheil." Und mit dieser Erkenntnis wäre denn ja auch der Fehlgriff Heideggers selbst von 1934 entschuldigt ...

Die nächste Frage Beaufrets geht auf den Zusammenhang von Ontologie und Ethik, also danach, welche Regeln sich ein wirklicher Humanismus in der Sicht Heideggers denn zu geben habe; lassen wir auch hier Heidegger das Wort (S. 43 ff.): "Bald nachdem ‚S.u.Z.‘ erschienen war, frug mich ein junger Freund: ‘Wann schreiben Sie eine Ethik?‘ Wo das Wesen des Menschen so wesentlich, nämlich einzig aus der Frage nach der Wahrheit des Seins gedacht wird, wobei der Mensch dennoch nicht zum Zentrum des Seins erhoben ist, muß das Verlangen nach einer verbindlichen Anweisung erwachen und nach Regeln, die sagen, wie der aus der Ek-sistenz zum Sein erfahrene Mensch geschicklich leben soll. Der Wunsch nach einer Ethik drängt um so eifriger nach Erfüllung, als die offenkundige Ratlosigkeit des Menschen nicht weniger als die verhehlte sich ins Unmeßbare steigert. Der Bindung durch die Ethik muß alle Sorge gewidmet sein, wo der in das Massenwesen ausgelieferte Mensch der Technik nur durch eine der Technik entsprechende Sammlung und Ordnung seines Planens und Handelns im ganzen noch zu einer verläßlichen Beständigkeit gebracht werden kann." ... (S. 51) "Nur sofern der Mensch, in die Wahrheit des Seins ek-sistierend, diesem gehört, kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen. Nur "die in der Schickung des Seins geborgene Zuweisung" ... "vermag es, den Menschen in das Sein zu verfügen. Nur solche Fügung vermag zu tragen und zu binden. Anders bleibt alles Gesetz nur das Gemächte menschlicher Vernunft. Wesentlicher als alle Aufstellung von Regeln ist, daß der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet. Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren. Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des Seins. "Halt" bedeutet in unserer Sprache die ‚Hut‘. Das Sein ist die Hut, die den Menschen in seinem ek-sistenten Wesen dergestalt zu ihrer Wahrheit behütet, daß sie die Ek-sistenz in der Sprache behaust. Darum ist die Sprache zumal das Haus des Seins und die Behausung des Menschenwesens. ... Das Denken achtet auf die Lichtung des Seins, indem es sein Sagen vom Sein in die Sprache als der Behausung der Eksistenz einlegt. So ist das Denken ein Tun. Aber ein Tun, das zugleich alle Praxis übertrifft. ... Das Denken bringt nämlich in seinem Sagen nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache. ... Diese bleibende und in ihrem Bleiben auf den Menschen wartende Ankunft des Seins je und je zur Sprache zu bringen, ist die einzige Sache des Denkens. ... Das künftige Denken ist nicht mehr Philosophie, weil es ursprünglicher denkt als die Metaphysik ... Das Denken sammelt die Sprache in das einfache Sagen. Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind."


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