Der Irrtum des Sokrates

Kleine Polemik gegen zu große Wissenschaftsgläubigkeit

Nicht wenige beten heute wieder das wohl berühmteste Wort der Philosophiegeschichte nach: "Ich weiß, daß ich nichts weiß" – und meinen damit einer reflektierten Selbstehrlichkeit Ausdruck geben zu sollen. Oft ist mit einer solchen Einstellung paradoxerweise auch noch eine Art Stolz auf dieses "Nichtwissen" verbunden ... Eine solche Äußerung kann mithin sowohl aus wirklicher Dummheit als auch aus angeblicher Einsicht geboren werden – für uns Heutige stimmt sie jedoch nie und nimmer: eher schon wissen wir zuviel, wo Sokrates dies am Beginn der Vernunftentwicklung vor 2400 Jahren noch zu Recht sagen konnte.

Viel schwerwiegender aber als jene falsche Anwendung dieses alten Satzes der Vernunftrezeption auf unsere reflektierende Zeit der vollendeten Metaphysik ist ein anderer Glaube, der auch noch heute im Schwange ist und ebenfalls mit Sokrates begann: jener andere berühmte Satz, daß Wissen gleich Tugend sei – daß also, wer das Richtige und Gute kenne, sich eben deshalb auch richtig und gut verhalten werde. Steht dieser Glaube doch auch noch hinter der modernen Auffassung aller Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigen: "Gebt den Menschen nur das ‚richtige Wissen‘, bestehend aus den Kernsätzen der heutigen und im Prinzip vollendeten Naturwissenschaft, und so werden wir wie von selbst eine Ende der abstrusen Verhaltensweisen von Menschen erleben, die sich in Religionen, Fundamentalismen, Mystizismen und sonstigem Aberglauben manifestieren."

Es sind nicht nur der rauchende Mediziner und der kirchenbesuchende Wissenschaftler, die einen solchen Glauben an die Macht und Wirksamkeit des Wissens in Frage stellen – als ob es eine Garantie dafür gäbe, daß dieses Wissen auch wirklich zur vernünftigen Leitung des eigenen Verhaltens eingesetzt, und nicht viel häufiger dieses Wissen zu ganz anderen Zwecken mißbraucht würde!

Nein, es ist auch der Glaube an die Vollendung des Wissens, der hier schreckt – und der um nichts weniger metaphysisch ist als der Glaube an Gott; denn hier glaubt der Mensch der Vernunft an sich selbst, indem er einen bestimmten Entwicklungsstand des menschlichen Geistes verabsolutiert.

Sobald sich Wissenschaft in solcher Weise auf sich selbst setzt und der Selbstkritik vergißt, wie etwa bei Stephen W. Hawking, der dem Glauben verfallen ist, "Gott" die letzten Geheimnisse in Kürze entrissen zu haben, wird sie selbst zu einer gefährlichen Metaphysik:

Die Kaste der Wissenschaftler vermittelt dann dem "Volk" als Hohepriester dies für jenes unverständliche Geheimwissen etwa von der Relativitätstheorie als höchste Wahrheit; ebenso wie bei den Priestern wird die eigene Vermittlungstätigkeit festgeschrieben, indem dem Normalmenschen das Selbstdenken verboten wird, weil in solch hehren Denkbezirken allein der Wissenschaftler zuhause sei. Ausgestattet mit dieser Autorität verkündet dieser dann die Lehre vom "Urknall" als dem Neuen Gotte, ebenso unvorstellbar und dem Sterblichen unnahbar wie jener Alte Gott ...

Wer behauptet, er könne sich das Weltall in einem Stecknadelkopf vorstellen, der lügt oder glaubt. Aus sinnlich-überprüfbarem Wissen hat er es nicht, sondern er schließt mit der Vernunft, um ein geschlossenes Weltbild zu erhalten – ganz ebenso wie jener Gottesbeweis, der von der Uhr im Acker auf den Uhrmacher schließt.

Dieser Schluß auf den "Urknall" bleibt ebenso auf ewig unbewiesen wie Gott – die Schließenden wissen es – und halten ihn doch für "wahrer" als Gott. Die uns zugängliche Teilchenphysik aber zwingt keineswegs zu einer solchen Annahme, sondern erstreckt sich maximal auf vorhandene Teile des Mikro- und Makrokosmos, von Quanten bis zu Sternen, aber nichts darüber hinaus. Alles andere ist Spekulation, die sich hauptsächlich auf die Beobachtung der Fluchtbewegung im Weltall stützt. Da sage noch einer, die Wissenschaft, und gerade auch die Physik, sei nicht metaphysikanfällig ...

Wo Nietzsche, "bescheiden" wie er nun einmal ist, nur "auf eine Sekunde den Übermenschen erreichen" wollte, da erklärt uns der moderne Wissensüberzeugte, der "Plan Gottes" sei im Prinzip erkannt, und etwa noch unerkannte Reste werde man in Kürze völlig im Griff haben. Fragt sich nur, warum die allermeisten Menschen auf diesem Globus trotz aller kristallenen "Schönheit" der wissenschaftlichen Theorien etwas ganz anderes tun, als sich die neuen Hohepriester erwarten. Hätten die Wissenschaftsgläubigen nicht des Irrtums des Sokrates vergessen, so wüßten sie, daß Wissen nicht per se zur Tugend führt, ganz abgesehen von dem Problem, wie es wohl angesichts der evolutionären Verfaßtheit des Menschengeschlechts, das in seiner Breite alles andere als vernünftig ist, anstellbar sein soll, überhaupt zunächst zu einer entsprechenden Wissensvermittlung zu gelangen. Wissen ist wichtig, und Wissen vermag die Menschen vom Aberglauben zu befreien, aber nur, wenn man sie damit auch erreicht: sie also mit Kant in die Lage versetzt, selbst zu denken, anstatt ihnen wissenschaftliche Geheimlehren vorzusetzen, die als absolut angenommen und geglaubt werden sollen.

Da werden angebliche Naturgesetze postuliert, die quasi die Natur beherrschen und damit eine Art metaphysischer Geltung und Notwendigkeit erlangen, so wie einst die "göttlichen Gesetze", anstatt festzuhalten, daß dies alles Interpretationen der Art Mensch sind, wie dieser die kausalitätsbegründende Wiederholbarkeit in Raum und Zeit (als Neben-, Nach- und vor allem Miteinander) in einem jeweiligen eigenen Entwicklungsstadium erscheint.

Da wird mit der Speziellen Relativitätstheorie die Zeit als vierte Dimension eingeführt, die angeblich durch Urknall zusammen mit dem Raum hervorgebracht wird und so das Weltall mitkonstituiert, obwohl doch bis heute kein Mensch zu sagen weiß, was "Zeit" denn sei! Auch Gott schon schuf die Welt auf unerklärliche Weise...

Bisher galt Zeit als ein Maß, das der Mensch zwecks Handhabung des Nacheinander der Dinge und der umgebenden Abläufe in die Natur hineintrug. Die Relation von Sonne und Erde bestimmt noch heute die Zählung von Jahren und damit die Zeit-Zählung – aber wird die Zeit dadurch zu einem Etwas? Ist ein "Meter" ein Etwas, also mehr als ein bloßes Maß?

Aber offensichtlich gewann die Zeit auf wundersame Weise einen ganz neuen Status: indem Einstein verkündete, eine Sekunde entspreche genau derjenigen "Zeit", in der das Licht 300.000 km zurücklege, jene (wodurch auch immer) unüberwindliche Geschwindigkeitsbarriere im Weltall, mutierte die Zeit plötzlich zu einem solchen Etwas, aus dem menschlichen Maß war ein göttliches Faktum ("Naturgesetz") geworden. Woher aber will Einstein wissen, welche Geschwindigkeit exotische galaktische Strahlungen haben können, die wir vielleicht noch gar nicht kennen? Wer so denkt, gibt damit kund, schon alles, was ist – und auch alles, was möglich ist! – zu überschauen: metaphysisches und schließendes Denken.

Wie wird dereinst das wissenschaftliche Weltbild aussehen, wenn der Mensch erst einmal die Gravitation verstanden haben wird? Bis jetzt sieht er nur deren Phänomene, aber die Wirkungsweise ist nach wie vor ungeklärt. Begriffe wie Gravitationsfelder und -wellen verschleiern doch nur, daß man den eigentlichen Übertragungsmechanismus der Schwerkraft nicht kennt.

Wir lächeln über den Menschen des Verstandes, weil er mit seiner Zählweise das Alter der Erde auf etwa 5-6000 Jahre schätzte und die Erde als Scheibe dachte; begeben wir uns mit der Verabsolutierung unserer Denk- und Zählweisen nicht in die gleiche Lage?

Was wissen wir, wie nach uns kommende Generationen zu denken und zu interpretieren vermöchten, wenn wir ihr sowohl mit den fundamentalistischen Machtbestrebungen wie auch mit unserer teilweise selbstzerstörerischen Wissenschaftsgläubigkeit nur die Chance dazu lassen?

Werden jenen unsere Anschauungen nicht ein ebensolches Gelächter sein, wie es uns dies der Aberglaube der Altvorderen ist bis hin zum heute noch so im Schwange stehenden Christentum?


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