Deutsche Übersetzung zum englischen Originalartikel aus der Diskussion des Karl Jaspers Forums im Internet
(http://www.kjf.ca)
Original-Titel: KARL JASPERS FORUM TA24 Commentary 11
by Helmut Walther, 30 March – 16 April 2000, posted 17 April 2000
(CONCEPT-DYNAMICS AND THE HISTORY OF REALITY, SUBJECT, AND THE ENCOMPASSING)

KARL JASPERS FORUM TA24

Kommentar 11
von Helmut Walther, 30. März – 16. April 2000, versandt 17. April 2000
(Begriffsdynamik und die Geschichte der Realitδt, Subjekt, und das Umgreifende)

I. ABSTRACT

<1> Der in TA24 versuchten Zusammenschau von Empirismus, Metaphysik und Skepsis unter dem Gesichtspunkt der "Begriffsdynamik" wird grundsätzlich zugestimmt mit der Ergänzung, daß diese durch eine entsprechende Erkenntniskritik noch weiter evolutionär unterfüttert werden muß, wie es die Kognitionswissenschaften derzeit zu leisten versuchen. Die "Transzendenz der Begriffe" und das "Umgreifen der Erfahrung" werden insoweit parallelisiert mit der Rezeption und Reflexion sich schichtender neuronaler "Vermögen", was zu – dem Vorbestand gegenüber – emergenten Einsichten führen kann.

<2> Zum Zwecke dieser Ergänzung und Erhellung, aber auch zur Vereinheitlichung wird hier zwischen Verstand und Vernunft unterschieden, um schließlich deren verschiedene Aspekte, insbesondere aber Empirismus und Metaphysik sinnvoll aufeinander zu beziehen; dabei wird den Ergebnissen einer "hypothetischen Metaphysik" (geistunabhδngige Wirklichkeit: GUW), die sich der empirischen Hinterfragung stellen und standhalten, ebenso viel Realität beigemessen wie der Realität der Natur. Alle GUW, die sich auf Glauben oder die Dualität von Materie und Geist stützt, wird abgewiesen. Bei der steten Annäherung des Menschen an die Erkenntnis dieser Natur (und seiner selbst) geht es (zunächst) nicht um "Wahrheit", sondern um Werte, die der Mensch mit seinen verschiedenen Vermögen bildet: in der Kommunikation alles Seienden zu bestehen und diese in der Annahme des evolutiven Auftrags bewußt zu steigern. Wahrheit ist dabei kein "an sich", sondern ein Funktionskriterium, ob sich das ermittelte Faktum in jeder Hinsicht bewährt (Popper). Im Hinblick auf eine mögliche spätere Fallibilisierung bleibt jede Wahrheit grundsätzlich hypothetisch, weil ansonsten das Ende der geistigen Evolution vorausgesetzt würde, was selbst wieder metaphysisch wäre.

II. Versuch einer Zusammenfassung von TA24

<3> Ausgangspunkt der Untersuchung in TA24 ist das Geist-Gehirn-Problem und das sich daraus ergebende Verhältnis von Subjekt und Objekt, interner Vorstellung und externer Realität; Lösungsansätze sieht der Autor in einer Auffassung, die unter Zulassung einer hypothetischen Metaphysik durch eine "Begriffs-Dynamik" das "Umgreifende" als jeweilige rein funktional gedachte Transzendenzgrenze erweitern will. Diese Dynamik ergebe sich aus dem Verhältnis von Erfahrung und Begriff; einerseits übersteige der Begriffsgehalt in seiner Gänze das in dessen Aktualisierung Gegebene; gleichzeitig aber umgreife Erfahrung hinwiederum all jenes, was in Begriffen gegeben sei und schaffe daraus Neues in Form von hypothetischer Metaphysik, das an der Realität erprobt werden muß.

III. Kommentar und Ergänzungen

1. Geschichtliche Wissenstheorie

<4> Zu diesem Zwecke werden verschiedene Autoren aus Antike und Neuzeit "stichprobenartig" versammelt, um deren Stellung zu einer geistunabhängigen Wirklichkeit (GUW) zu überprüfen; dabei werden drei Möglichkeiten gefunden, die sich über die Zeiten hinweg ergeben haben: Akzeption, Ablehnung oder Urteilsenthaltung gegenüber von GUW.

Auswahl und Einordnung der jeweils angezogenen Denker erfordern bereits an dieser Stelle einige Ergänzungen, wie sie der Autor auch geradezu einfordert [6]:

<5> Zunächst fehlt es in diesem Zusammenhang (jedoch wohl auch den gesamten Text durchziehend) an einer Metaebene, aus der ein Leitfaden gewonnen werden könnte, welche Autoren warum in Frage kommen und wie sie von daher einzuordnen seien. Deren jeweilige Stellung zu GUW genügt dazu nicht, weil damit weder beantwortet wird, warum die eine oder andere Antwort bevorzugt wird, noch darauf eingegangen wird, woher diese Fragen nach GUW stammen, die plötzlich vor 2500 Jahren auftauchen. Die vorher von den Menschen auf diese Fragen gegebenen Antworten waren im Gegensatz zur GUW alle mythischer Natur und siedelten ihre "Entitäten" in einem direkten und bruchlosen Zusammenhang mit der sinnlichen und dinglichen Realität an – so alle Kulte vom Animismus bis einschließlich der Volksreligionen, etwa des griechischen Olymp.

<6> Diese Metaebene kann nur gewonnen werden, indem man die Entwicklung des menschlichen Geistes als epigenetisch-kulturelle Koevulotion auffaßt (wie etwa E. O. Wilson in "Consilience") und insbesondere den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft beachtet, wie ihn bereits Kant klassisch definiert hat.(1) Von dieser Metaebene her läßt sich der bis heute unausgestandene Streit über die Möglichkeit einer GUW, der sich wie ein roter Faden durch die Jahrtausende seit dem Beginn von Vernunft und Philosophie mit den Griechen zieht (wie dies auch schon Feuerbach beobachtet hat(2)), auffassen als ein stetes Ringen um den Vorrang zwischen den beiden rationalen Vermögen Verstand und Vernunft des Menschen. Je nach individueller Veranlagung und Reflexion wird dabei entweder der Empirie oder der Ontologie die erste Stelle zugewiesen bzw. seitens der Skepsis (ebenfalls bis heute) der Urteilsenthaltung (epoché) das Wort geredet. Soviel mag an dieser Stelle zu meiner eigenen Grundhaltung genügen(3); insofern wie auch im Hinblick auf die folgenden Ergänzungen zu den antiken Autoren verweise ich auf meine entsprechenden im Internet zur Verfügung stehenden Arbeiten zu Dialektik und Metaphysik.(4)

<7> Da in TA24 ein solcher roter Faden fehlt, wirkt die Auswahl der herangezogenen Denker eher willkürlich und leistet so nicht den erhellenden Dienst, der damit verbunden sein könnte – und wie ihn der Autor von TA24 dankenswerter- und berechtigterweise anstrebt(5):

Weder wird das Einsetzen der Rezeption der Vernunft durch die Naturphilosophie der Vorsokratiker erwähnt (Thales, Anaximander, Anaximenes, Heraklit, Demokrit), die von der äußeren Erscheinung der Natur ausgingen und das ihr Wesentliche suchten, noch wird auf die Anwendung dieser "Wesenssuche" auf den Menschen durch die Sophisten ("griechische Aufklärung") eingegangen, die bereits zu den genannten jeweils entgegengesetzten Lösungsansätzen gelangt sind (am bedeutsamsten wohl Protagoras und sein "homo-mensura"-Satz).

<8> Der rein ontologische Ausgangspunkt in [11] mit Parmenides ist daher einseitig, wenngleich er auch die (einzig mögliche) Entscheidung der griechischen Philosophie zugunsten der Metaphysik richtig kennzeichnet(6), mit der in der Begründung des eigenständigen Vermögens Vernunft der "Abendländer" auf den Weg gebracht wurde.(7) Doch anders als etwa im asiatischen Raum blieb die mit der sich auswickelnden Vernunft geborene, rein metaphysische Denkweise nicht unwidersprochen – Sinnlichkeit und Verstand mußten mit der Vernunft in ein Verhältnis gesetzt werden, anstatt sich für eines der beiden Vermögen unter Vernachlässigung des anderen zu entscheiden, und genau dies macht den Beginn der Reflexion der Vernunft durch sich selbst und die athenische Troika von Sokrates, Platon und Aristoteles aus, deren Bedeutung [in 12-14] m.E. nicht entsprechend erfaßt ist.

<9> Das von Sokrates aufgegriffene Delphische "gnoti se auton" wendet den Menschen auf sich selbst, der sich selbst als Inhaber des neuen Vermögens Vernunft und deren "Wesenserkenntnis" als ein ganz anderer erfährt als vordem. Bedeutsam für den Menschen sind nunmehr nicht mehr die äußeren Dinge, deren Wert und Besitz ("Haben"), die dann wiederum seinen Rang ausmachen, sondern die innerliche Haltung (s. das "daimónion" des Sokrates) – und so entsteht an diesem Punkt aus der Erkenntnis des gleichen Wesens die eine Ethik des Menschen der Vernunft ("Humanismus") im Gegensatz zu den verschiedenen Moralen des Verstandes, noch heute die Grundlage aller Ethik und der Menschenrechte ("Sein").

<10> Dieser Streit zwischen Verstand und Vernunft wird bei den Griechen und für das Abendland entschieden zwischen Platon und Aristoteles, indem letzterer den Idealismus des ersteren in (fast) gehöriger Weise mit der Empirie zu verbinden weiß: Ist für Platon die Erkenntnis des "Schönen, Wahren und Guten" (zentriert in der "Idee des Guten") und der "Himmel der Ideen" und deren Rangfolge für den Normalsterblichen uneinsehbar (Höhlengleichnis), so kann sich doch der "Weise" durch Absonderung von der flüchtigen und abbildhaft eingeschränkten Realität und in der Konzentration auf das Ideal dieser präkonstruierten wahren Welt (GUW) annähern und sie im mystischen Kontakt ("éros") gar erreichen (Symposion).

<11> Der wesentlich nüchternere Aristoteles mildert den Idealismus Platons ab zum "Hylemorphismus" (hýle: Stoff; morphé: Gestalt, Form), in dem Verstand und Vernunft zusammengedacht sind: Für uns Menschen sei die sinnliche Welt, die uns die Vorstellungen liefere, die erste und vorausgehende, hingegen die metaphysische (Wesens-)Welt der Formen die zweite. Von der Vernunft her betrachtet aber sei die Welt der Formen die wahre erste Seinsweise, und die realen Dinge seien "nur" Konkretisierungen (Seiendheiten) dieser "göttlichen Formen". Das "Göttliche" ist daher rein geistiger Natur (noûs) als Ausgangspunkt dieser Formen (und gleichzeitig das "Erste Bewegende")(8) – auch hier also der Vorrang der Vernunft vor dem Verstand und keine wirkliche Vermittlung. Indem Aristoteles diese zweite Seinsweise als der ersten Seinsweise der realen Dinge vorausgehend begreift, legt er die Wurzel all jenen Denkens, in dem die Geistbestimmtheit (GUW) der realen Ausformung vorausgeht (bis hin zur Prästabilierung bei Leibniz und zu Hegels "Weltgeist", der sich dialektisch auf seine eigene "Realisierung" als "Ziel der Geschichte" zuentwickelt).

<12> Zwei weitere Denkschulen der Antike bleiben daneben bis heute wirksam, der [15-17] geschilderte Skeptizismus und der Epikureismus, der als erster die Bedeutung von Lust und Freude (hedoné) in den Mittelpunkt eines glücklichen Lebens stellt, allerdings unter Anleitung der Vernunft, und die Götter aus dem menschlichen Umkreis verweist. Beide Strömungen kommen mithin grundsätzlich ohne GUW aus.

<13> Unerwähnt bleiben die Stoa und der Neuplatonismus; wurde erstere insbesondere durch Cicero zur staatstragenden römischen Philosophie (Marc Aurel), in welcher der lógos als "Weltvernunft" alles Seiende durchherrscht (und so auch die Durchorganisation des römischen Weltreichs gewährleistet), so ist die Emanationslehre Plotins, die auf die zunehmende Einschränkung der Seinsstufen bei Platon zurückgreift, bis zur Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften im Mittelalter wirksam. Beide Auffassungen müssen offensichtlich als auf GUW basierend eingeordnet werden.

<14> Da der hier vorgestellte (hypothetische) rote Faden fehlt, gebricht es auch [18] an einem organisch eingefügten Verständnis der Entstehung von Hochreligion, die quasi als eine verlängerte Überhöhung der Volks- oder "heidnischen" Religionen verstanden wird, anstatt den Umsturz durch die Entwicklung der Vernunft auch in der Religion zu klären, der sich menschheitsgeschichtlich sogar im Bewußtsein einer "Zeitenwende" manifestierte. Alle "Hochreligionen" vom Buddhismus über das Christentum bis zum Islam sind ihrem inneren Anspruch nach Weltreligionen – im Gegensatz zu den Nationalreligionen des Verstandes –, sie wenden sich auf Grund der Vernunft-Erkenntnis des gleichen Wesens an alle Menschen dieser Erde, wo der Verstand auf der Verschiedenheit, Eigenheit und dem Rangunterschied beharrt.

<15> Der Monotheismus ist ein Vernunftprodukt (im Gegensatz zum Polytheismus des Verstandes), das Göttliche mutiert zum "Allumfassenden-Ewigen-Einen", von dem der Verstand noch gar keine Ahnung haben konnte – bereits Anaxagoras und Sokrates bekamen es zu spüren, was es hieß, die alten Riten derart radikal in Frage zu stellen, ebenso wie ein Jesus.

Hochreligion ist die Rückstrahlung des Idealismus der in die kulturelle Tradition eindringenden Vernunft auf die Masse nach dem Verbrauch der Verstandeskultur ("Ende des Mythos": s. etwa die ägyptische Stagnation) im werdenden römischen Weltreich, vorbereitet durch die griechische Troika Sokrates, Platon und Aristoteles(9), die Stoa und den Neuplatonismus, unter Assimilierung der meisten einst "heidnischen" Bräuche zum Zwecke der Einbindung dieser Masse. (Nicht umsonst entstehen die neuen Hochreligionen Christentum und Buddhismus fast gleichzeitig und in einer sowohl inhaltlich wie funktional fast genau gleichen Entwicklung – abgesehen von der oben geschilderten unterschiedlichen Stellung zu GUW).

<16> In der folgenden Darstellung [20 ff.] vermisse ich einige Denker, so John Locke, den eigentlichen Begründer des Empirismus ("Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war"), der mithin als erster in der Neuzeit eine GUW-freie Theorie aufstellen wollte, und die französische Aufklärung (Voltaire, Rousseau, La Mettrie u.a.), die mit ihrer radikalen Kritik die breite Abkehr jedenfalls von den hergebrachten GUW-Vorstellungen innerhalb der Religion einleiteten, ohne allerdings selbst davon ganz frei zu sein. Jedenfalls wurde auf diesem Wege, in Kant mündend, der Mensch wieder auf den eigenen Gebrauch seiner Vernunft gestellt.

<17> Verkannt scheint mir Kierkegaard zu sein, dessen Haupteinsichten auf dem Gebiet der Reflexion liegen (etwa das Verhältnis zwischen Ästhetiker und Ethiker, z. B. in "Entweder/Oder"), wenn er etwa die nivellierenden Folgen des Eindringens der Reflexion in die Massen beschreibt – womit er gültige Voraussagen für den modernen Menschen geliefert hat; gleichzeitig reflektiert er selbst das Wesen des Religiösen (Ironie, Religiosität A und B) ganz ausgezeichnet, wobei er als gläubiger Christ selbstverständlich vom Boden einer GUW aus argumentiert, aber insbesondere das ethische "uno tenore" der Vernunft festhält.

<18> An dieser Stelle schiebe ich eine Verbindung meiner eigenen Sicht der Vernunftentwicklung mit derjenigen von TA24 ein(10): Verstand und Vernunft werden, wie gesehen, als eigenständige Vermögen betrachtet; Vernunft erbaut sich ebenso in einem Rezeptions- und Reflexionsgang über den Verstand, wie sich jener einst über die Emotio hinaus eröffnete, dabei ausschließlich mit den Daten dieses Verstandes arbeitend. Hier genau liegt der ergänzende Zusammenhang mit der Argumentation von TA24, wenn auf die "Begriffsdynamik" Wert gelegt wird, die ja ebenfalls in einer zweifachen Bewegung gesehen wird, einmal als Übersteigen des Begriffs (= Rezeption), zum anderen als das Umgreifen der Erkenntnis (= Reflexion). Insoweit scheint mir zwischen den beiden Auffassungen durchaus Übereinstimmung zu herrschen; allerdings vermag eine "arbeits-metaphysisch" behauptete "Begriffsdynamik" weder ihr Woher noch ihr Wohin anzugeben, während hier das Verfahren von Rezeption und Reflexion der Ratio-Vermögen auf eine epigenetisch-kulturelle Koevolution zurückgeführt und damit in das herrschende Paradigma des Evolutionismus eingebunden wird. Ein starkes Argument für diese dynamische Auffassung bildet die Beobachtung der Bedeutungsübertragungen vom sinnlichen auf den Wesensgehalt von Begriffen, wenn Vernunft ihre Interpretation der Verstandesdaten vornimmt und damit der Begriff eine ganz neue Bedeutungsebene gewinnt. Hand in Hand damit geht eine "Umwertung aller Werte" – der Mensch sieht sich mittels der Vernunft in ganz anderer Weise in die Welt eingebettet als mittels des Verstandes allein, und aus diesem Grunde hat die abendländische Menschheit, von der die aktive Ausformung der Vernunft in die Tradition der gesamten Menschheit eingefügt wurde, hier eine Zeitenwende angesetzt.

<19> Im übrigen ist dem Autor von TA24 beizupflichten, wenn er eine "hypothetische Metaphysik" fordert, was von mir damit begründet wird, daß zwischen richtiger und falscher Metaphysik unterschieden werden muß:

a) Richtige qualitative Bezugserhöhungen durch die Vernunft in der Kommunikation des Seienden als Wesensaufdeckung.

b) Phantastische Idealisierungen, sei es in Richtung auf Religion, sei es in Richtung auf "Geist" als Selbstüberhebung der Vernunft.(11)

Dies meint keine Vereinigung von Physik und Metaphysik, sondern die Ergebnisse der Metaphysik werden, soweit sie einer rechtmäßigen Anwendung der Vernunft entstammen, dem physischen Werden hinzugezählt. Dabei bleiben selbstverständlich alle richtigen qualitativen Bezugserhöhungen in der Kommunikation des Seienden als Wesensentdeckung etwa der Ethik erhalten; und sie werden zusätzlich unterfüttert durch eine entsprechende Gründung und Begründung aus der Erhöhung der Ratio als Vernunft, welche die mit ihren eigenen Verfahren ermittelten Werte ins Dasein und dessen Tradition einträgt. Mit dieser Eintragung erhalten diese Werte eine ebensolche Realität, wie es die utilitaristischen Gefühlswerte des Verstandes erfuhren. Letztere werden noch heute so apriorisch als "richtig" und "lebendig" erfahren und angesehen, daß die Emotio-(Vor-)Urteile des Verstandes die Vernunfturteile allzumeist überwiegen.

In dieser Weise schafft sich die "Begriffsdynamik" vermittels der "Transzendenz der Begriffe" (Rezeption) sowie des "Umgreifens der Erfahrung" (Reflexion) eine eigene und emergente Metaebene (Metaphysik der Vernunft), aus der sich notwendig auch neue Werte ergeben.

<20> Im weiteren Gang von TA24 wird die GUW-Rückbindung der "phänomenologischen" Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jh. zu Recht ausgesprochen – steht hinter all diesen Bewegungen doch vor allem der Versuch, mittels Reflexion die funktionale Rezeptionstätigkeit der Vernunft zu kritisieren und zu "wiederholen" (etwa Heideggers "Sein und Zeit"), um "endlich die Dinge richtig" zu sehen. Dabei konnte notwendig nur neue Metaphysik geboren werden, da das meist unausgesprochen wahrgenommene "Ende der Metaphysik" = "Nihilismus" nicht in einer einfachen Wiederholung der Rezeption mittels dieser selben Vernunft überwunden werden kann.

<21> Der Existentialismus und die Postmoderne wenden diese Grunderkenntnis des "Endes der Metaphysik", die auch Ausgangspunkt der phänomenologischen Sehweise war, ähnlich wie die Sophisten im Gefolge der Naturphilosophie, wiederum auf den Menschen an – Jaspers und Sartre, aber auch Dekonstruktivismus, Relativismus und Konstruktivismus. Die einstige Festgefügtheit des Weltbildes der Vernunft ist zerfallen, der Mensch auf sich selbst gestellt, und direkt parallel werden die bereits ganz zu Anfang genannten drei Möglichkeiten (Empirismus, Skepsis und Ontologie; aber auch der Epikureismus feiert natürlich fröhliche – und in der "fun-Zivilisation" meist vulgäre – Urstände im modernen Gewand) als die angeblich neuen Kleider dieser selben Vernunft vorgestellt – doch leider ist auch in diesem Falle der Kaiser nackt geblieben, ohne es zu bemerken. All diese Versuche bleiben in Wirklichkeit leer, weil durch eine bloß wiederholende Rezeption mittels Reflexion keine neuen Sehweisen eröffnet werden können, um das konstatierte "Ende der Metaphysik" (= Ende der Vernunftauswicklung) zu überwinden.

<22> Hier soll noch kurz auf Jaspers eingegangen werden, da in TA24 dessen einschlägiger Begriff des "Umgreifenden" in bedeutsamer Hinsicht gebraucht wird, wobei darunter allerdings etwas gänzlich anderes verstanden wird als bei Jaspers selbst; da sich das Forum selbst unter den Namen dieses Philosophen gestellt hat, scheint dies um so notwendiger.

<23> Jaspers setzt an die Stelle des Spiels im illusionären Schein der Kunst (Nietzsche) und der Heideggerschen "Seinslichtung", die jenem selbst nicht gelingen will (da möglicherweise das Heilige derzeit notwendig verborgen sei), das "Umgreifende".

Dies sind ihm weder einzelne Lehren noch auch systematische Ganzheiten von Lehren, etwa der Nietzscheschen (s. Jaspers, "Nietzsche" S. 18), vielmehr sind für ihn solche Versuche der philosophischen Umfassung der Existenz wiederum selbst nur eine "Funktion des umgreifenden Ganzen", "das nicht Grundlehre, sondern Grundantrieb ist". Die Freiheit des Transzendierens hat ihre Schwelle an eben dieser Transzendenz – das Überschreiten wird quasi vom Umgreifenden her, das über diese Schwelle hinausgedacht (! sic) wird, "geschenkt", ist "Gnade" von jenem her.

<24> Dies mutet stark metaphysisch an im Sinne einer GUW; anders als bei Heidegger, der sein "Seyn" soweit hinausverlegt, daß er es mit Y und nur noch durchgestrichen schreibt, scheint das "Umgreifende" Jaspers‘ eine Art spinozische Allgegenwärtigkeit zu besitzen, die "irgendwie" unabhängig von den Menschen existiert. Das ist immer noch der alte Reflex der Vernunft, sich Neues, das einst und bis vor kurzem in ihr selbst aufschien, – in einer psychologischen Introspektive zu Recht, und insofern auch der Ursprungsgrund der Hochreligion – nicht selbst als Vernunft meint zurechnen zu können, denn sie weiß von sich selbst ja, daß sie dieses jeweils Neue nicht selbst in einem bewußten Akt erzeugt hat – es ist "gegeben worden", daher das Gefühl der Begnadung in ihr selbst.

<25> Die Transzendenz stellt sicherlich eine "Grenze" dar – es kommt aber alles darauf an, wie man diese Grenze definiert: geht man davon aus, daß hinter dieser Grenze "bereits etwas ist", etwa Gott, oder eben das "Umgreifende", handelt es sich ebenso um falsche Metaphysik wie im Falle Kants, der hier einer "als-ob-Methode" das Wort redet (wir sollten uns so einstellen, als ob sich hinter der grenzenden Transzendenz ein Gott befände – das erinnert ein wenig an Pascals Wette ...), was der Verweigerung der Annahme der Selbstverantwortung des Menschen entspricht, wie sie dann Feuerbach forderte.

<26> Richtig beschrieben werden kann die Transzendenzgrenze nur so, daß sich hinter ihr nichts verbirgt, nicht einmal das Nichts! Vielmehr bedeutet diese Grenze nichts anderes als den jeweiligen Stand der Kommunikation des Seienden mit sich selbst – und mittels dieser qualitativen Zunahme der Kommunikationsweisen wird diese Transzendenzgrenze stetig weiter hinausgeschoben von der Immanenz her.

Es ist dies der nämliche Fall wie beim realen Raum: Wohinein bläht sich das Weltall auf? Doch nicht in einen anderen weiteren Raum hinein, nein, vielmehr schafft es erst selbst den Raum durch seine Fluchtbewegung – ganz ebenso schiebt die qualitative Zunahme der Informationsverarbeitung durch Lebewesen den "Kommunikationsraum" immer weiter "hinaus", jeweils die vorherigen Grenzen der innerweltlichen Kommunikation überschreitend: Transzendenz durch Abarbeiten am "Umgreifend-Grenzenden" mittels Rezeption und Reflexion.(12)

Insofern stimme ich der technischen Verwendung der Begriffe "Transzendenz" und des "Umgreifenden" in TA24 sowie der Funktionalisierung von Metaphysik völlig zu.

<27> Dem Konstruktivismus wird in TA24 ein gesonderter Abschnitt gewidmet [39-47], offenbar in der Annahme, daß hier Parallelen zur "Begriffsdynamik" enthalten sein könnten – die Frage ist nur, ob man damit nicht einer ungewollten Verwechslung Vorschub leistet:

Wenn wir von "der Welt" sprechen, meinen wir unsere Welt, wie sie uns als rationalen Wesen gegeben ist und auf Grundlage dieser Vermögen erscheint. (Daher ja die Kantsche Ablehnung der Erkenntnis des "Dings an sich".) Wir "konstruieren" die Welt, insbesondere die menschlich-kulturelle, und schaffen damit neue Wirklichkeit. Ist diese kulturelle Wirklichkeit womöglich "unwirklicher" als etwa die "natürliche Wirklichkeit"? Oder ist sie nicht vielmehr in Wirklichkeit (sic) von derselben Realität wie jene? Alle Wirklichkeit geht hervor aus interagierender Kommunikation, sei es in Natur oder Kultur, woraus emergent Neues entsteht. Die sich in der Interaktion als stabil erweisenden Ergebnisse der Vernunft sind daher von derselben Realität wie alles andere Seiende auch. Andererseits sind sie gleichzeitig hypothetisch, insofern wir zwar die Stabilität unserer Annahmen sehen, soweit sie in der Realität funktionieren (wenn wir auf dem Mars landen), andererseits uns der "objektiven Letztgültigkeit" unserer Hypothesen nicht sicher sein können, wenn wir eine Steigerung unserer Erkenntnisfähigkeit über den erreichten Status hinaus für möglich halten. Dies umso mehr, wenn wir (wie etwa ich) nicht von einem Stillstand der Evolution mit dem Menschen, sondern von einer epigenetisch-kulturellen Evolution ausgehen, die mit der Repräsentation von Verstand und Vernunft nicht abgeschlossen sein muß.

2. Diskussion

<28> Ganz grundsätzlich scheinen all jene Ansätze als falsch, die in irgendeiner Form eine letztgültige "Wahrheit" behaupten; dies gilt für den Empirismus ebenso wie für die Ontologie/Metaphysik, aber auch noch für die Skepsis – mit der die "Uneinsehbarkeit" mit der Folge der "Urteilsenthaltung" als "Wahrheit" verkauft wird und etwa zu einem falschen Relativismus führen kann – insofern ist die Bezeichnung "Komödie der Irrungen" [52] völlig angemessen. Zu deren Personal ist auch der einseitige Szientismus sowie der starke Reduktionismus zu zählen.

<29> "Tertium datur" – auch hier wird ein "Mittelweg" das Rechte sein, wenn auch nicht die aristotelische "Goldene Mitte" – vielmehr besteht dieser Weg in der sinnvollen Aufeinanderbeziehung aller drei Standpunkte.

Informationsrezeption und -reflexion durch Leben ist nicht um ihrer selbst willen da (das "to hou heneka", wie es schon Aristoteles erkannt hatte), sondern zielt auf die aktive und passive Beteiligung an der Kommunikation des Seienden. Diese Aktivität des Lebendigen ist also nicht auf "Wahres" gerichtet, sondern auf "Werte" (in einem weiten Wortsinne), die für das individuelle Lebewesen von Bedeutung sind. Quasi "nebenbei" kommt es dabei evolutiv zur Steigerung der informationsverarbeitenden Fähigkeiten – die (bislang) "gipfelnd" im Menschen in ihrer reflexiven Anwendung von Innen nach Außen zu jeweils neuen "Wirklichkeiten" (etwa Lebewesen) geführt haben bis zur kulturellen Lebensform des Menschen.

<30> Dafür aber bedarf es durchaus keiner "Wahrheiten", sondern lediglich der realen Funktion der jeweils neuen Errungenschaften gegenüber dem und im Vorbestand der Welt. Insofern kann auch heute noch – und selbst innerhalb der menschlichen Kultur – der Irrtum genauso "wertvoll" sein wie die "Wahrheit" ...(13) Es ist immer das individuelle Subjekt, das für sich in einer aktiven und passiven Bezogenheit zur Welt steht, und in dieser Kommunikation bestehen muß – dazu bedarf es jedoch keiner "objektiven Wahrheit", soweit der Irrtum die nämliche Funktion erfüllt; im Gegenteil kann die sogenannte "objektive Wahrheit", soweit sie einem Individuum unverstanden aufgezwungen wird, zur individuellen Lebensuntüchtigkeit führen. (Die Hochreligionen haben das sehr früh erkannt, und deshalb werden bis heute in diesen in der Hauptsache aus den Verstandesreligionen stammende heidnische Bräuche reproduziert, oft sogar auf Kosten des eigentlichen Gehalts als Weltreligion – man sehe nur nach Rom.)

<31> Unsere rationale Sehweise mittels Verstand und Vernunft stellt mithin keine "Wahrheit" zur Verfügung, sondern unterschiedliche Annäherungen an die Verfaßtheit unserer Welt. Dabei ist es unter dem Gesichtspunkt der individuellen Existenz (zunächst) nicht entscheidend, welcher Form von Annäherung man anhängt (besser: aus der eigenen Genese und Konditionierung heraus anhängen muß). Ein anderes ergibt sich jedoch aus der zunächst metaphysischen und nunmehr in die Tradition eingegangenen Erkenntnis der Wesensgleichheit der Menschen und der daraus zu ziehenden Konsequenzen: Es ist vernünftig, nicht auf einer Wahrheit für alle zu beharren (wie es noch die Hochreligionen taten), sondern die Menschen in ihrer gegebenen Verschiedenheit und insbesondere auch darin, was sie für "wahr" halten müssen, anzunehmen, dies aber unter Durchsetzung des ethischen Grundprinzips, da es letztlich für alle menschlichen Individuen nützlicher ist, die eigene Individualität in eine kontinuierliche Kommunikation mit allen anderen Individuen einzubringen als sich in Frontstellung gegen "andersartige" Traditionen zu behaupten. Auf diese Weise lassen sich dann auch die Ethik der Vernunft und der Utilitarismus vereinigen, da selbstverständlich eine nicht nützliche Ethik ebenso sinnlos wäre wie jene Form der Metaphysik, die sich nicht durch die Empirie des Verstandes und der Sinne hinterfragen lassen will.

<32> "Was ist Wahrheit" – diese alte Frage des Pilatus kann überhaupt erst mit dem Hervortreten der Vernunft auftauchen, erst mit ihr wird die Wahrheit zu einem eigenen Wert, als "Teilmenge" des "Guten, Schönen und Wahren" Platons. Die eigentliche "Wende", die wir heute mit den verschiedenen "Kränkungen" seit Kopernikus, Darwin und Freud ansetzen – dieser tiefgreifendste Umsturz innerhalb der Menschheitsgeschichte ist der Schritt vom Verstand zur Vernunft, indem der Mensch hier erkennen muß, daß ihm sein eigenes Vermögen Verstand die Welt nicht zeigt, wie sie "wirklich" ist – erst die Zweiheit der Vermögen erzwingt die Frage nach der Richtigkeit zwischen Schein und Sein, und erst damit wird die Richtigkeit der Sehweise als Wahrheit zu einem eigenständigen Wert der Vernunft. Ebenso wie letztere notwendig zum Monotheismus führt, kann es auf die Frage nach der "richtigeren" Weltsicht nur eine Antwort geben, die "Wahrheit". Sie ist als "a-laétheia" dasjenige, was vom Verstand unbemerkt geblieben ist und von der Vernunft ins Unverborgene geholt wird.

<33> Die fehlerfrei (weil durch Empirie hinterfragte und mit der Nützlichkeit des Verstandes verbundene) erworbene Metaphysik stellt keine GUW dar, sondern enthält genauso viel Wirklichkeit, wie sie in der kulturellen Wirklichkeit des Verstandes oder in den emotionalen Traditionen des Tierreiches ebenso vorhanden ist. Meiner Auffassung nach wird seit langem und bereits im Tierreich der einst rein genetische Informationspool von einem Traditionspool überlagert, der auf dem Wege des Lehrens und Lernens an die Nachkommenschaft weitergegeben wird. Sollen wir dann diesen sowohl natürlichen als auch kulturellen Traditionsbestand wirklich als GUW bezeichnen, wenn wir andererseits den Gen-Pool als etwas "Materiell-Wirkliches" nehmen, wie es gerade die Entzifferung des menschlichen Genoms zeigt?

<34> Vielmehr wird es – wie auch in [61] angesprochen – darauf ankommen, zu unterscheiden, was einer zu akzeptierenden "hypothetischen Metaphysik" zuzurechnen ist – indem hier die Vorvermögen als Basis jeweils zu hinterfragen haben –, und was nicht. In der Rezeption der Vernunft und in der Ausstrahlung derselben auf die "unvernünftigen" Massen wurde zunächst eine Unmenge an fehlerhafter Metaphysik in die Tradition aufgenommen – dies wird nun seit Descartes mittels Reflexion dieser selben Vernunft wieder ausgeschieden; ganze Gesellschaften bzw. die Menschheit scheinen hier einen ähnlichen Weg zu gehen wie das Individuum selbst. Es müssen wohl die Werte – wenn auch nicht unbedingt die Formen – der globalen menschlichen Tradition vereinheitlicht werden auf der Grundlage des ethischen Grundprinzips, und dem Anspruch nach ist dies denn auch schon geschehen in der Erklärung der grundlegenden Menschenrechte durch die UNO. Auf eine solche Weise mutiert dann schließlich die einstige GUW-"Wahrheit" Platons von der "Idee des Guten" zu einer metaphysischen Hypothese, die im Eingang in die menschliche Tradition Realität wird.

<35> Diese Tradition wird derzeit stets weiter verändert und erweitert, je mehr die reflexiven Erkenntnisse der wissenschaftlichen Vernunft (= Naturwissenschaft) in diese Eingang finden: Unsere bislang auf rein mesokosmischem Wissen basierende Tradition scheint in der Aufdeckung von Mikro- und Makrokosmos (Quantentheorie – Relativität von Raum und Zeit, Gravitation) und deren ganz "unvernünftiger" Gesetze – sprich: durch welche die mesokosmische Anschauung unserer Vernunft überstiegen (und auch überfordert!) wird –, eine neuerliche Rezeption einzuleiten, deren Ergebnisse bislang noch uneinheitlich sind.

<36> Auf allen wichtigen Gebieten, sei es in der Physik, sei es in den Kognitionswissenschaften wird jeweils um eine "Vereinheitlichung" gerungen (wie ja auch hier); mich erinnert diese Situation stark an jene der vorsokratischen Philosophie, die mit den verschiedenen Ansätzen zur Naturerklärung die "Wesensschau" und damit die Entwicklung der Vernunft selbst einleiteten. Hier stimme ich mit dem Autor von TA24 [62] überein, daß die verschiedenen Ansätze in Kybernetik, KI, Computersimulation und ähnliche schließlich zu ganz neuartigen Einsichten und Begriffen führen werden, die womöglich eine ebenso "umstürzende" Weltsicht erlauben wie einst vor 2500 Jahren.

<37> Soweit ich sehen kann, sind die meisten der in [48-70] von TA24 erörterten Folgerungen durch III,1 und das hier in III,2 einleitend Gesagte grundsätzlich bereits aufgenommen worden; im übrigen erscheint eine kontroverse Diskussion der drei möglichen verschiedenen Standpunkte aus dem Gesichtspunkt der notwendigen Vereinheitlichung derselben nicht unbedingt fruchtbar, sondern dürfte eher die Entweder-Oder-Haltung perpetuieren und damit kontraproduktiv sein. Daher werde ich mich hier auf einzelne Punkte beschränken:

3. 0D; Subjekt; Ich, Selbst und Bewußtsein; Erkenntnis und Evidenz; Mystik

<38> "Nullableitung",, "Konstruktion im Apeiron" "innerhalb des unbegrenzten und undefinierbaren subjektiven Teiles der Erfahrung", "ausgehend vom Unstrukturierten", wie in [2], [5] angesprochen: Der menschliche Geist ist kein "Apeiron", keine "leere Tafel", wie noch Locke mit Aristoteles meinte, sondern ein in vielfacher Weise begrenztes und von vielfachen Vorbewertungen abhängiges Werkzeug. Sowohl die Sinnesorgane selbst als auch deren Interpretationssysteme zeigen nur eingeschränkte Bandbreiten des Wirklichen, und unsere rationale Reflexion dieser Interpretationen ist wiederum nur auf einen kleinen Ausschnitt dieser vegetativen Abläufe des Gesamtorganismus "Mensch" beschränkt; und was und wie etwas in unser rationales Bewußtsein tritt, ist keinesfalls "wertfrei", sondern vielfach vegetativ-genetisch, instinktiv, emotional und rational vorbewertet: All das läßt weniger die Möglichkeit zu, auf eine "Erfahrung aus dem Unbegrenzten" zu schließen, als vielmehr von einem vielfach gebrochenen und vorbewertenden individuellen Filter auszugehen, der jedem Individuum eine andere Wirklichkeit zeigt, deren Regulativ in der Realität die Funktion, und in der kulturellen Wirklichkeit die intersubjektive Tragfähigkeit der verschiedenen Filterergebnisse ist.

<39> Vielmehr erscheint die menschliche Forschungstätigkeit ganz umgekehrt als der (gelingende) Versuch einer Entgrenzung dieser subjektiven und begrenzten Filter durch reale und theoretische Hilfsmittel; Beschleunigerringe wie CERN und Theorien wie die Allgemeine Relativitätstheorie erlauben uns interpretierende Einblicke in die Realität des Seienden, die weit über unsere mesokosmisch begrenzte Ausstattung hinausgehen, diese "transzendieren". Das "Apeiron" der möglichen Erfahrung liegt also nicht "hinter, unter uns" (wie etwa im Buddhismus das "Feld der Leere"), sondern vor uns in der weiteren Aufdeckung der "Kommunikation des Seienden" – Quantenfelder im Mikrokosmos, Gravitationsfelder im Makrokosmos, aber auch das "Feld" der zivilisatorisch-kulturellen Interaktion des Menschen in der Wirkung auf die Umwelt und sich selbst harren allesamt noch der entgrenzenden Klärung.

<40> "Feld"- oder – wie ich sie nenne: synergische – Theorien werden wohl die "Fackeln" in dieser neuerlichen Rezeption des Seienden sein, wie es sich heute schon etwa in der Anwendung der Gentechnologie zeigt: Man beobachtet nicht mehr nur die Wirksamkeit einzelner Gene, sondern in den "Genomics", der "Genomtechnik", erstreckt sich die Beobachtung jeweils auf ganze Arrays von Genen, weil sich erst aus deren sich gegenseitig beeinflussendem Wechselspiel das Wirken in Raum und Zeit ergeben kann. Das Schlagwort dieser neuen Erfahrungen wird – wie es sich genauestens auch an der Neurobiologie zeigt – die Wechselwirkung sein.

<41> Das Objektive als dem Subjektiven vorhergehend zu begreifen ist genau die gleiche metaphysische Haltung (GUW), wie sie auf ihre je eigene Weise bereits die Griechen und zuletzt Kant und Hegel einnahmen. Insoweit gibt es viele Berührungspunkte zwischen der Fiktionalität des Neukantianers Vaihinger und der hier entwickelten Sehweise – bei dem allerdings der Zusammenhang zwischen Hypothesen und Fiktionen nicht entsprechend gelöst zu sein scheint: Unsere Fähigkeit zur Verifikation von Hypothesen mittels Empirie der Sinne und des Verstandes zeigt, daß unsere Fiktionen mehr sind als bloßes "Als Ob". Würden sie nicht mit der Wirklichkeit zumindest insoweit übereinstimmen, daß sie in ihrer Funktion die angestrebten Werte und Zwecke liefern, so würden wir mit diesen Fiktionen in der Realität scheitern und es gäbe die Menschen längst nicht mehr. Die Landung auf dem Mars und atomare Reaktoren sind kein "Als Ob" und zeigen, daß auch noch unsere "Fiktionen" in einem funktionierenden Realitätsbezug stehen, weshalb die Unterscheidung zwischen ihnen und Hypothesen unsinnig ist. Wir spalten inzwischen die "Fiktion Atom" und gewinnen daraus Energie, auch wenn wir mit unserer mesokosmischen Weltsicht das Quantenverhalten noch nicht entsprechend verstehen.

<42> Das Subjekt ist in einer geschichtlichen und evolutionären Welt grundsätzlich das Erste; es ist aber keineswegs ein in freier Willkür schwebender menschlicher Geist, der damit zum Ausdruck kommt (und eben auch keine 0D-Möglichkeit), vielmehr trägt bereits dieses Subjekt vielschichtige Welthaftigkeit in sich, indem sich der Geist des Menschen und alle ihn vorbegründenden Vermögen entlang dieser ihnen vorausliegenden (und damit jeweils gleichzeitig hervorgebrachten) Umwelt entwickelt haben. Das Subjekt ist also gar nicht so "subjektiv", wie ihm in der falschen Dualität von Geist und Materie oft unterstellt wird; vielmehr ist in seine Genese vom Genom bis hin zu den vegetativen, instinktiven und emotionalen Interpretationsmustern all jene mesokosmische und reale Welthaftigkeit eingegangen, die das Bestehen dieser vorausliegenden Welt begünstigte.

<43> Das "Objektive" ist eine Hervorbringung dieser Subjekte; verbirgt sich doch hinter diesem Begriff nichts anderes als die Wesenserkenntnis der Vernunft, die an den vom Verstand gelieferten Dingen das Zufällige abstrahiert und das ihnen Wesentliche zurückbehält – der Ursprung aller Wissenschaft und auch der "Naturgesetze", in denen das Subjekt Mensch den Kommunikationszusammenhang alles Seienden interpretierend und auf den Begriff bringend aufdeckt und in seiner eigenen kulturellen Entwicklung daraus Neues schafft. Die daraus hervorgehenden Kühlschränke und Raumschiffe, aber auch Theorien und selbst fehlerhafte Metaphysik wie etwa die Religionen sind geradeso real wie etwa die Entwicklung der Säugetiere aus den Reptilien, wie auch all jene inzwischen untergegangenen Arten wie die Saurier.

Das Problem liegt offenbar darin, daß das Subjekt Mensch der Realität eine seine eigene Einsichtsfähigkeit übersteigende "Objektivität" zuschreibt, die er ihr soeben erst in der Wesensaufdeckung selbst verliehen hat. Auch dies ist immer noch der alte Fetisch, indem der Mensch das aus sich selbst Herausgestellte überhöht (GUW). Das Festhalten an dieser Unterscheidung zwischen "objektiv" und "subjektiv" zeigt an, daß man damit diesen falschen metaphysischen Standpunkt noch nicht überwunden und Verstand und Vernunft noch immer nicht sinnvoll aufeinander bezogen hat: Das Objektive ist in mehrfacher Hinsicht Teil des Subjekts, die Kommunikation der Subjekte erzeugt die Realität, aber niemals eine irgendwie "vorgegebene" Objektivität. Die Natur selbst ist ebenso wie ihr Teil Mensch in der Rolle des sich selbst überraschenden Zauberlehrlings – wir sollten uns bewußt sein, daß kein "großer Meister" existiert, der uns beim "Trial and Error" in der realen Existenz zur Seite stehen könnte, heiße man diesen "Gott" oder "Objektivität einer vereinheitlichten Weltformel".

<44> Nicht umsonst hat es sich inzwischen herumgesprochen, daß jeder Mensch sein eigenes Universum im Kopf trägt – wobei es zunächst verwundern könnte, wie unter diesen Umständen eine intersubjektive Vermittlung überhaupt möglich ist. Aber all die verschiedenen "Ich"-Welten sind "natürlich" (sic) allein schon deshalb kompatibel, weil, wie oben <42> bereits gesagt, jedem subjektiven Ich vor allem die gleiche objektive Welthaftigkeit am Grunde liegt, die sich das Leben bis hin in seiner Entwicklung zum Menschen angeeignet hat.

Wenn es Sinn macht, von Fiktionen zu reden, dann im Hinblick auf dieses "Ich", das "Selbst" dieses "Ich" und dessen "Bewußtsein". "Vielleicht läßt sich ja auch die Frage, was Bewußtsein ist, niemals endgültig klären."(14) In einem solchen Falle sind wir mithin für unser Selbstverständnis notwendig auf eine hypothetische Metaphysik angewiesen.

<45> Daraus allerdings wie in [66] zu folgern, das wissenschaftliche Studium des Bewußtseins sei ein begrifflicher Selbstwiderspruch, weil eine solche "objektive" Betrachtung die fortgesetzte subjektive Erfahrung nicht mit einschließe, scheint mir zu weit zu gehen. Warum sollte sich irgendetwas Diesseitiges, zu dem auch solche Phänomene wie "Bewußtsein" und "fortgesetzte subjektive Erfahrung" (in meinen Worten: Rezeption und Reflexion) zu zählen sind, nicht ebenso "wissenschaftlich" erfassen lassen, wie alle anderen Phänomene dieser Welt auch? Das ist zuletzt nur eine Frage ... des richtigen Fragens und daraus folgend eines entsprechenden "Versuchsaufbaus". So ist es sicherlich der richtige Ansatz, zunächst die Aktivität verschiedener Neuronalzentren mit der Aktivität von Sinneszentren sowie deren Interpretationszentren zu korrelieren, wie dies die Kernspintomographie erlaubt. Legt man dabei bislang eher Wert auf "objektive" Interpretationsleistungen der Sinneszentren, so ist mit Damasio und dem Fall Phineas Gage durchaus auch schon die Schranke zu den subjektiven (in diesem Falle emotionalen) Interpretationen und Bewertungen überschritten. Ein Vergleich verschiedener Ontogenesen vom Baby bis zum Erwachsenen wie auch die psychologische Beobachtung unterschiedlicher Wertungen in gleichgelagerten Fällen (was ebenfalls bereits geschieht) zusammen mit der neurornalen Aktivität läßt hier durchaus "objektive" Rückschlüsse auch noch auf die "Subjektivität" zu.

<46> Doch werden wir hier dem sprachlichen Dualismus ebenso wenig entgehen wie bei der Erklärung des Photons als Korpuskel und als Welle. Wir können als Subjekte unter uns umgebenden Objekten alle Dinge einschließlich unserer selbst nur in dieser doppelten Weise beschreiben: einmal als uns entgegentretende Oberfläche, zum andern als aus sich selbst wirkendes "Ding" – was der ureigensten rationalen Erfahrung unseres eigenen Gestelltseins entspricht – dieses Grundproblem begegnet ja schon beim Ausgangspunkt des Aristoteles, dem Verhältnis von Stoff und Form. Aller Holismus und alle Mystik versucht diese unser rationales Erfassen erst ermöglichende Grundbedingung in einer "Einung" zu überwinden – kein Wunder, daß sich über solche "Erfahrungen" rational nichts sagen läßt...

<47> Insofern ist auch noch unser Ich-Zentrum einerseits eine sich auf Empfindung und Ratio stützende Fiktion – ebenso wie das Zentrum eine Sternes wie der Sonne – beide lassen sich grundsätzlich nicht lokalisieren; gleichzeitig aber sind das Massezentrum der Sonne wie unser Ich sehr real, indem die von uns ausgehenden Handlungen wie die von der Sonne ausgehenden Massenwirkungen sich genauso verhalten, "als ob" sie aus dem jeweiligen Zentrum stammen. Wir machen nicht unsere Hand verantwortlich, und das wohl zu Recht, wenn diese eine falsche Handlung ausführt, sondern unser "Ich", das in der Steuerung auf einer bestimmten von verschiedenen möglichen Ebenen versagt hat.

Verkompliziert wird die Sachlage beim Menschen dadurch, daß sein rationales Bewußtsein nur zwei Sphären seiner selbst durchdringt, Ratio und Emotio; die instinktiven, noch mehr aber die vegetativen Vorgänge bleiben ihm verborgen, obwohl sie erst die Voraussetzungen für die emotionale und rationale Selbstwahrnehmung liefern. Aus diesem Grunde unterscheide ich zwischen "Ich" und "Selbst": letzteres umfaßt alle Bereiche des Individuums, die sich das "Ich" zurechnet und zurechnen lassen muß, auch wenn sie nicht in die bewußte Steuerung des Ich fallen. Diese dem Ich nicht bewußten Vorgänge auch noch des eigenen Selbst können nur in derjenigen Weise reflektiert werden, wie alle anderen Dinge außerhalb des Ich auch, nur von der beobachteten "Oberfläche" her, also "objektiv". Und genau aus diesem Grunde sind wir auch in Bezug auf uns selbst zum gleichen sprachlichen Dualismus verdammt wie im Hinblick auf alle anderen Dinge auch.

<48> Insofern können wir uns selbst ebenso wenig vollständig erkennen wie das "Ding an sich" – wir können auch in Bezug auf uns selbst immer nur entsprechende Wirkungen (energeia, z.B. neuronale Aktivität) mit gleichzeitig und womöglich kausal auftretenden äußerlich auftretenden Beobachtungen korrelieren(15) – ebenso wenig wie wir uns in die Lage der Sonne versetzen können, ebenso wenig gelingt uns das im Hinblick auf ein Neuron.

Dies umso mehr, als wir, wie bereits oben angedeutet, nicht einmal zu sagen wissen, was die uns selbst eigentlich nächstliegende, uns selbst als Menschen ausmachende Tatsache des Bewußtseins eigentlich sowohl bedeutet als auch ist. Nach meinem Dafürhalten müssen (wie so oft) auch hier zwei verschiedene Bedeutungsgehalte klar unterschieden werden:

a) "Bewußtsein an sich"
b) "Bewußtsein von etwas"

Meint ersteres einen bloßen "Einschaltzustand" vorhandener Wahrnehmungs- und Interpretationsapparate, der bereits auf pflanzlicher Ebene zu beobachten ist (und der, zwecks Regeneration dieser "Apparate", meist im Tages- und Nachtrhythmus ein- und ausgeschaltet wird), so ist letzteres immer direkt an die Sinnes- und Interpretationsvermögen gebunden. In letzterer Hinsicht aber scheint mir der Begriff "Bewußtsein" tatsächlich überflüssig zu sein, da damit nur das "Wissen um Bewußtseinsinhalte" verdoppelt wird, das sich in Wirklichkeit allein schon aus der jeweiligen Wahrnehmungs- und Interpretationsaktivität ergibt. In Wirklichkeit wird damit m.E. nur die erlebte und reflektierte Selbstwahrnehmung des instinktiven, emotionalen oder rationalen (Verstand und/oder Vernunft) Zentrums angesprochen, in der das Individuum die "Bewertung" dieses Vermögens für sich selbst "erfährt". So schreibe ich den höheren Tieren zwar durchaus "Empfindungsbewußtsein" zu in Form einer reflektierten Emotio, das sie insbesondere in die Lage versetzt, durch "unbewußt"-selbstbewertende Konditionierung aus den Umwelterfahrungen zu lernen; und das gleichzeitig dazu führt, daß auch Tiere leiden ...: in der emotionalen Reflexion (= empfindungsbewußt) negativ bewerteten Situationen ausgesetzt zu sein. Aber dieses "Bewußtsein" ist völlig identisch mit der Emotio-Reflexion selbst, nicht noch einmal "neben" diesem.

<49> Grundsätzlich ist das qualitativ zwar andere, weil rationale "Bewußtsein" des Menschen hier in der nämlichen Lage; es erstreckt sich insbesondere räumlich und zeitlich durch die synästhetische Ding- und Situationserfassung in der kausalen Verbindung der Dingwirkungen über einen wesentlich weiteren Umkreis, bleibt aber doch immer reflektierendes und bewertendes Vorstellen von vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen, näheren oder entfernteren Situationen (also "Ding-Konstellationen") mittels der verschiedenen Vermögen, deren Tätigkeit identisch mit dem jeweiligen "Bewußtsein von etwas" ist. Auch hier also eine zusammenfassende Verdoppelung eines bestimmten Aktivitätszustandes.

<50> Rezeption und Reflexion bezeichnen die zwei Stufen jener Dynamik, mit der lebendige informationsverarbeitende Systeme vorhandene Information aufnehmen und anwenden bzw. neue Information innovativ für die Tradition zur Verfügung stellen, sei es als genetische Mutation oder als kulturelle "Idee". Beim Menschen lassen sich diese beiden Erfahrungsarten auch als "Lernen" und "Erkennen" unterscheiden: Die rezipierende Aufnahme von Ideengehalten mittels Lernen verschafft dem Lernenden ein Wissen, das er "technisch-funktional" anzuwenden vermag und das er auf fremde Autorität hin annimmt, insbesondere aus der Tradition. Erkenntnis hingegen macht das Erkannte für den Erkennenden selbst klar und wahr (und unausweichbar), das Erkannte wird zum reflektierten Bestandteil der Persönlichkeit. Geschieht solches Klarwerden "schlagartig", wird es meist als "Evidenz" bezeichnet; der funktionelle Gehalt von Erkenntnis und Evidenz liegt wohl darin, daß sich verschiedene Wissensbausteine (etwa auch erlernte) entweder durch reflektierende Zuordnung oder durch als "plötzlich" erlebten "Zu-Fall" in einer als "sinnreich" erfahrenen "Gesamtordnung" darbieten. Beides führt auf neuronaler Ebene sicherlich zu einer "Bindungsverstärkung" der beteiligten Strukturen, und im Falle der Evidenz meist auch zu einem starken emotionalen Positiv-Erleben, das diese neuronale Bindung erheblich fester ausbilden kann als allmähliches Reflektieren. Natürlich haben diese internen Vorgänge keinerlei Bedeutung für eine "objektive Wahrheit" der "Erkenntnis" bzw. des "Evidenten" – gehören sie doch dem einzelnen Subjekt an. Diese Bedeutung ergibt sich erst aus der intersubjektiven Kommunikation, ob das subjektive Reflexionsprodukt auch über das Individuum hinaus tragfähig ist (was meist nicht der Fall sein wird, da in der menschlíchen Tradition einem Meer von Irrtümern nur einige Sandkörner von "Wahrheiten" gegenüberstehen).

<51> Der Evidenz nahestehend im Begriffsgehalt wie in der subjektiven Erfahrung ist die Mystik; wie schon angedeutet, besteht ihr hauptsächlicher Inhalt im Erleben einer Einung von Subjekt und Objekt, die nur "überrational" möglich ist (s. <46>) und daher als "transzendierend" erlebt wird; je nach Tradition wird sich der Bildgehalt solcher Erfahrungen mit dem "Höchsten" der jeweiligen Kultur verbinden, in der Regel also "Gott", jeweils abhängig dabei von der Ausgestaltung des Gottesbildes durch das Individuum. Erfahren sich die Mystikerinnen eher als die "Bräute Jesu" – wovor schon Eckehart warnte ... –, drängt es den rational durchgebildeten Mystiker zur "negativen Theologie" über alle Begrifflichkeit hinaus (Eckehart selbst); letztere Mystik ist der buddhistischen verwandt, der ja von vornherein – jedenfalls in der ursprünglichen Form des "Kleinen Bootes" – das göttliche Gegenüber fehlt und die sich auf das Nichts bezieht. Da auf diese Weise das Subjektive der Persönlichkeit keinen Bezugspunkt hat, bleibt das Satori im Zen eine wesentlich "unaufgeregtere" Erfahrung (so stellt es sich "beim Klang einer Glocke", beim "Auffliegen eines Vogels" plötzlich und ungesucht ein) als die "unio mystica" mit "Gott" etwa eines Augustinus oder das im Wortsinne umwerfende Erleben eines Saulus, der daraufhin zum Paulus wird.

<52>Die mystische Erfahrung als Zugang zum "Umgreifenden" anzusehen wie in [59] scheint mir in mehrfacher Hinsicht problematisch:

a) Der ansonsten in TA24 durchgehaltene Begriffsgehalt beschreibt eine funktionale Grenze, die durch transzendierende Begriffe und umgreifende Erfahrung weiter hinausgeschoben werden kann – das Konzept selbst bezeichnet sich als "Begriffsdynamik" auf Basis einer hypothetischen Metaphysik. Alle Mystik ist aber genau dadurch gekennzeichnet, daß das in der mystischen Einung Erlebte nicht adäquat auf den Begriff gebracht werden kann. Insofern kann sie zum Konzept der Begriffsdynamik auch nichts beitragen (ganz abgesehen von den Fehlformen der Mystik, die in Richtung auf Emotionalität oder meditative Techniken zu sehen und meist sehr beredt sind ...).

b) Wie soll es gedacht werden, daß der Mystiker "Zugang" zu einem doch als bloße funktionale Grenze definierten Umgreifenden findet? Ein sich vorschiebender Grenzstreifen ist Niemandsland ohne jeden Inhalt – es scheint, daß hier im Gegensatz zum sonstigen Gebrauch in TA24 das "Umgreifende", ohne dies kenntlich zu machen, im Jasperschen (und spinozischen) Sinne benutzt wird in der Weise, daß von diesem her "Begnadung" erfahren werden könne. Damit wird aber nicht nur eine Als-Ob-GUW, sondern eine falsch metaphysische GUW gesetzt. Insbesondere Buber – den ich in vielem sehr schätze, ebenso wie Meister Eckehart – überspitzt in "Ich und Du" den Subjektivismus des "lebendigen in Beziehung Stehens", das als "Gottesnähe" qualifiziert wird (ähnlich dem Kontakt zum Umgreifenden bei Jaspers) und bringt ihn in Gegensatz zum Realismus der rationalen "Es-Welt". In dieser Bevorzugung einer mystisch gedachten "lebendigen Innerlichkeit" liegt zugleich eine Herabsetzung der rationalen Basis, welche die weit überwiegende Mehrzahl der auf dem Planeten lebenden Menschen, gerade auch im Hinblick auf eine ethische Ausgestaltung der realen Kommunikation, dringend nötig hat.

c) Die (angebliche) Unmittelbarkeit und Unmitteilbarkeit des mystischen Erlebens verweist alle Nichtmystiker, wiederum die weitüberwiegende Mehrzahl der Menschen, auf den Glauben an eine nichtnachvollziehbare und subjektive Erfahrung eines anderen Individuums. Indem alle Mystiker – jedenfalls bis jetzt – sich ausschließlich in der religiösen Sphäre bewegten, wird damit gleichzeitig der Glaube gefordert, daß diese Sphäre als mit dem Mystiker korresponierende "Entität" ein den Menschen gegenüber transzendentes eigenständiges "Etwas" sei. Der Mystiker mutet den Nichtmystikern mithin einen zweifachen Glauben zu und entzieht sich damit doppelt der intersubjektiven Nachprüfbarkeit, der Voraussetzung aller GUW-freien Stellung zur Welt.

<53> Ebenso wie ein wissenschaftliches Studium des Bewußtseins und seiner Phänomene möglich ist (s. <45>), geradeso muß sich auch die mystische Erfahrung, die genau ein solches Bewußtseinsphänomen ist, einer vorurteilsfreien Betrachtung im Wege einer rationalen Erhellung stellen. Geben wir diese Forderung auch nur in einem Falle auf, so haben wir der Irrationalität Tür und Tor geöffnet und bringen diese "Sündflut" nicht mehr zum Stehen mit all den "unheiligen" Folgen, zu denen Irrationalität zwangsläufig führen muß.

 

Anmerkungen:

1 >>"Die Philosophie, wie auch die Mathematik, kann in zwei Theile getheilt werden, nämlich in die reine und in die angewandte. – Die Metaphysik ist das System der reinen Philosophie. Das Wort Metaphysik bedeutet eine Wissenschaft, die über die Grenzen der Natur hinausgehet. (Natur ist der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung.)
Ein Principium ist eine allgemeine Regel, welche wieder andere Regeln unter sich enthält. Wenn wir alle reinen Begriffe, die ganz von den empirischen gesondert sind, zusammen nehmen; so bekommen wir dadurch eine Wissenschaft. Die philosophische Erkenntnis besteht aus solchen bloßen Begriffen a priori.
Die Physik ist die Philosophie über die Natur, insofern sie von den Principien aus der Erfahrung abhängt; die Metaphysik aber ist die Philosophie über die Natur, in sofern sie von den Principien a priori abhängt. Die Moral lehrt uns die practischen Principien der Vernunft. Die Begriffe, worauf alles angelegt zu seyn scheint, ist der Begriff von einem höchsten Wesen und einer andern Welt.
Die Metaphysik ist nothwendig. Ihr Grund ist die durch empirische Begriffe niemals zu befriedigende Vernunft. Die Vernunft findet weder in der Betrachtung der Dinge Befriedigung, noch im Felde der Erfahrung, d. h. in der Sinnenwelt. Der Begriff von Gott und von der Unsterblichkeit der Seele, das sind die beiden großen Triebfedern, weshalb die Vernunft aus dem Felde der Erfahrung herausgegangen." Offenbar scheidet Kant hier also die empirische "angewandte" Erfahrung des Verstandes von der "reinen" Metaphysik der Vernunft.
"...Die Hauptwissenschaften, die in die Metaphysik gehören, sind: Ontologie, Kosmologie und Theologie... Die Ontologie ist eine reine Elementarlehre aller unserer Erkenntnisse a priori, oder: sie enthält den Inbegriff aller unsrer reinen Begriffe, die wir a priori von Dingen haben können... Die Kosmologie ist die Weltbetrachtung durch die reine Vernunft... Die letzte metaphysische Hauptwissenschaft ist die rationale Theologie." Mithin: Ontologie ist Wesenserkenntnis der Vernunft, ihr Ziel ist die Erkenntnis des "Wesenswas" als proton ousia, wie Aristoteles sagen würde, bzw. mit Platon die Erkenntnis der Ideen: dasjenige Sein, von dem alles "nur" Seiende sein "wahres Sein" herbezieht: die Vernunft erbaut sich ihr Feld über dem Verstand: Kant’s "Begriffe a priori".
"...Die Ontologie ist der erste Theil, der wirklich zur Metaphysik gehört ... und bedeutet soviel als die Wissenschaft der Wesen, oder recht nach dem Wortverstande die allgemeine Wesenslehre. Die Ontologie ist die Elementarlehre aller meiner Begriffe, die mein Verstand a priori nur haben kann." << (Aus "Was ist Metaphysik?" – http://helmutwalther.privat.t-online.de/wim.htm)
Kant-Zitate nach den Vorlesungen über die Metaphysik, 2. Aufl. nach der Ausgabe Erfurt 1821, herausgegeben von Dr. K. H. Schmidt, Buchverlag Pflugbeil, Roßwein 1924

2 >>Auch Feuerbach geht es damit um das Thema, das so alt ist wie die Philosophiegeschichte selbst, das sich wie ein roter Faden durch dieselbe zieht: um das Verhältnis von Vernunft und Verstand auf der einen Seite und Empfindung und Gefühl auf der anderen, um das Verhältnis zwischen Sinneswahrnehmung und Denken. Dieses Verhältnis ist bereits am Beginn des Philosophierens bei den Griechen, von den Vorsokratikern bis Platon (Höhlengleichnis) und Aristoteles (erste und zweite Seinsweise) umstritten, das Thema kehrt im Streit zwischen Nominalismus und Realismus der Scholastik wieder und ist bis heute unter den Namen Empirismus/Materialismus/Positivismus kontra Idealismus nicht ausgestanden. "Der Streit oder Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus ist nicht der zwischen Materie und Geist, Leib und Seele, sondern der zwischen Empfinden und Denken.", so bringt Feuerbach seine Abwendung von der Hegelschen Metaphysik auf den Punkt.<<
(Aus meinem Artikel "Nietzsche und Feuerbach. Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit" – im Internet unter http://helmutwalther.privat.t-online.de/n_f.htm)

3 Hier noch zur Klarstellung meine eigenen Definitionen zu Vernunft, Verstand und Gefühl (enthalten in http://helmutwalther.privat.t-online.de/schoenes.htm)
>>Vielmehr müssen wir uns – und das hat die Kognitionswissenschaft inzwischen durchaus erkannt – neben dem reduktionistischen "bottom up"- vor allem auch dem sogenannten "top down"-Ansatz zuwenden, d.h., wir müssen von den spezifischen Leistungen auf das entsprechende Vermögen, also "von oben nach unten" schließen, selbstverständlich immer im Hinblick auf die jeweilige Basis – und so sehen wir, daß die Vernunft sich auf den Verstand als ihren Vorläufer gründet ebenso wie dieser sich auf die Empfindung der Emotio. Dieses Phänomen des Hervortretens qualitativ neuer Systemeigenschaften, die sich einer rein reduktionistischen Erklärung entziehen, wird in der Wissenschaft als Emergenz bezeichnet. Die hauptsächliche emergente Systemeigenschaft der Vernunft ist es, von den Dingen selbst auf deren Wesen als den Inbegriff ihrer wesentlichen Eigenschaften zu schließen, diejenige des Verstandes besteht darin, die Daten der Einzelsinne zu Dingen zusammenzufassen und damit auf den Begriff zu bringen [sowie eigenständig zu speichern als ein Zusammengesetztes aus sinnlichen "Eindrücken" = Piktogramm, Wort und Bewertung; von daher liegt es auf der Hand, daß beim Tätigwerden des Verstandes die verschiedensten Gehirnzentren zugleich tätig werden, wenn der Verstand im Kurzzeitgedächtnis die piktografischen, begrifflichen und bewerteten Speicherungen aktualisiert – auch diese "Synästhesie", also die Zusammenfassung der verschiedenen sinnlichen Wirkungen zu einem Wirkungsträger und deren Konditionierung unter einem "Begriff" läßt sich gut in die Vorstellung einer "Begriffs-Dynamik" einbinden; des weiteren sind hier ein weites Beobachtungsfeld die sprachlichen Bedeutungsübertragungen beim Weg vom Verstand zur Vernunft: sehr viele Begriffe erhalten nun einen zweiten Bedeutungsgehalt, in dem sich die Ausdeutung sinnlicher Daten durch die Vernunft ausspricht, der unter dem gleichen Begriff wie der sinnliche Gehalt angesprochen wird.].
Was ist dann Gefühl? Fühlen ist in Verstand übersetztes Empfinden, in dem der Verstand das Vorhandenseins von Empfindung erfährt. Die eigentlichen menschlichen Gefühle – neben dieser Öffnung der Empfindungen für den Verstand – entstehen aus der emotionalen Bewertung und gesonderten Speicherung der Dingerkenntnisse und -benennungen des Verstandes.<<

4 Was ist Dialektik? – http://helmutwalther.privat.t-online.de/dialekt.htm (deutsch)
Was ist Metaphysik? – http://helmutwalther.privat.t-online.de/wim.htm (deutsch)
What is Metaphysic? – http://helmutwalther.privat.t-online.de/wim_eng.htm (englisch)
Bewußtsein und Wesen – http://helmutwalther.privat.t-online.de/wesen.pdf (deutsch)

5 Im übrigen ist dies sowohl der Grundzug der Diltheyschen Philosophie wie auch des von mir vertretenen Standpunktes: Aus der Beobachtung und Zuordnung der geschichtlich sich entwickelnden Vernunft – also in einer Gesamtzusammenschau der einzelnen Stationen und Widersprüchlichkeiten der abendländischen Philosophie – eine Metaebene zu gewinnen, mit der sowohl der Dualismus von Seiendem und Sein, Stoff und Form, Leib und Geist wie auch der zwischen Materialismus und Idealismus überwunden werden kann, hinter welchen unterschiedlichen Sehweisen sich immer wieder nichts anderes als die unterschiedliche Perspektive von Verstand und Vernunft auf die Welt verbirgt.
Zum Verständnis der Natur des Menschen, der sich teils als Subjekt, teils als Objekt erfährt, ist daher eine doppelte Vorgehensweise erforderlich: Einerseits ist ein strukturelle Theorie erforderlich, die alle verschiedenen Grundlagen und Vermögen des Menschen (einschließlich seiner vormenschlichen) in einem phänomenologisch beschreibenden und erklärenden Konzept verbindet; gleichzeitig bedarf es andererseits einer verstehenden Theorie vom Standpunkt einer Metaebene aus, in der im geschichtlichen Nachvollzug der kulturellen Phänomene jenes beschreibende Konzept (das zunächst ein Konstrukt der sich zu sich selbst in Doppelreflexion begebenden Vernunft ist – und bis hin zu Kant und Hegel ein dualistisches und intellektualistisches Vorgehen bleibt) im inneren und lebendigen Nachvollzug des Individuums – anders ausgedrückt: im Aufeinanderbeziehen der Phylo- und Ontogenese des heute lebenden Menschen – als bis zum jeweils eigenen Menschsein führende Bedingungen verstanden werden. Ziel dieser doppelten Bewegung ist es, wie schon bei Dilthey angelegt, das "objektiv-rationale" mit dem "subjektiv-existientiellen" Verständnis miteinander zu verbinden, ohne jeweils die Ontologie der Empirie, die Vernunft dem Verstand, die Seele dem Leib, den Idealismus dem Materialismus aufzuopfern (und umgekehrt). Insofern bedarf es dazu keiner zwei verschiedenen "Wissensarten" ("two kinds of epistemology", s. Commentary 27, <3> zu TA11 [Dilthey and I-Thou] von Zvi Lothane), sondern lediglich unterschiedlicher Herangehensweisen genau in dem Sinne, wie wir uns selbst Subjekt und Objekt zugleich sind.

6 Heidegger kam deshalb auf die Idee, die griechische Ontologie des Seins als "Wesen" für fehlerhaft zu erklären, um damit 2500 Jahre Vernunftentwicklung auszustreichen und mit einer "phänomenologischen Fundamentalontologie" wiederholen zu wollen, da die Griechen die Grundfrage nach dem "Sein" mit ihrer Anfangsfrage nach dem "Wesen" falsch gestellt hätten. Daher spricht Heidegger hier von Nietzsche ausgehend vom Ende der Metaphysik, was zumindest insoweit richtig ist, als die Vernunft mit ihren Möglichkeiten, Sinnstiftung für die Realität aufzudecken, am Ende sein dürfte – wir haben den Kreis zur Antike geschlossen, daher zu Recht die heutige "Modernität" der Antike, das Rückschauen auf unsere Wurzeln. Nur in diesem Rückblick können wir vielleicht lernen, neue Wege aufzudecken über die Vernunft hinaus, so wie einst die Griechen die Vernunft über den Verstand hinaus aufdeckten.

7 Das Globale dieser Entwicklung der Vernunft auf der Basis des Verstandes (was wiederum für die Annahme einer epigenetisch-kulturellen Koevolution spricht, wenn der zugrundeliegende Verstand durchreflektiert ist, und was für die Phylogenese ganz ebenso wie für die Ontogenese gilt) läßt sich insbesondere im indisch-chinesischen Raum beobachten, wo etwa gleichzeitig mit Buddha bzw. den beiden Antipoden Laotse und Konfuzius sich genau die gleiche Entwicklung Bahn bricht, die aber, anders als bei der griechischen Entscheidung für die Metaphysik, sich insbesondere im Buddhismus für den Standpunkt des bloßen "Scheinens" der Realität (ähnlich wie bei manchen Sophisten) entscheidet und so zu einer Abwendung von dieser gelangt.

8 s. zum aristotelischen "Wesen" insbesondere auch http://helmutwalther.privat.t-online.de/wesen.pdf

9 Diesen Zusammenhang erkannte schon Nietzsche zu Recht, und so galt sein Verdammungsurteil insbesondere dieser griechischen Troika, die griechische Philosophie ließ er nur einschließlich der Vorsokratik gelten. Popper übernahm dann dieses Vorurteil insbesondere gegenüber Platon; daher stammt wohl die heute grassierende Ablehnung Platons unter den "Intellektuellen", die sich auf eine einseitige Interpretation stützt und dessen eigentliche Bedeutung nicht zur Kenntnis nimmt.

10 Eine Grafik dazu ist im Internet als PDF-Datei herunterladbar unter http://helmutwalther.privat.t-online.de/denken.htm

11 Aus: "Was ist Metaphysik": "Diese Unterteilung ist insbesondere deshalb wichtig, als meist angenommen wird, daß bei einem Wegfall phantastischer Systeme in Religion und Philosophie auch die rational richtigen Wertsysteme entfallen müßten, da letztere tatsächlich meist auf erstere gegründet werden. Man meint nämlich aus der hierin falschen Vernunftperspektive, zuallererst das summum bonum ermitteln zu müssen, um daraus alle anderen Werte abzuleiten; anstatt zu sehen, daß dies summum bonum lediglich eine metaphysische Abstraktion aus vorher bereits via Vernunft entwickelten Werten ist. Das Eine ist nicht das Erste, sondern das Letzte in der Rezeption der Metaphysik. Die dialektischen Stufen des Besseren sind es, die zum Besten führen, zum Zentrum des "Wahren, Schönen und Guten"; erst in der Umwendung der die Leitungsfunktion übernehmenden Vernunft gewinnt das summum bonum sein Eigenleben.
Sprache ist das Mittel des Menschen zur Kommunikation; Kommunizieren heißt, auf etwas bezogen sein; das Was des Bezuges nennt der Mensch einen Wert. Die Rezeption der Vernunft bringt mit der Ethik neue Werte in die Welt, die Reflexion fügt diese in den Bestand des Menschlichen ein und fragt zugleich nach der Ordnung aller Werte in der Welt; ein Wert, und deshalb wertvoll, ist dasjenige, worauf Seiendes in seiner Kommunikation mit dem Umseienden mittels eines funktionalen Vermögens und dem mit diesem verbundenen lebendigen Innenzentrum aktiv verwiesen ist. Mithin: je mehr und differenziertere Vermögen Seiendes in der aktiven Kommunikation anzuwenden vermag, desto mehr Werte wird es in der Welt entdecken.
Der Wert des Seienden seit dem Umschlagpunkt der Rezeption zur Reflexion der Vernunft durch das Dreigestirn Sokrates, Platon und Aristoteles ist das Sein als Teilhabe am summum bonum, dem Zentralbegriff des Wertumgriffs. Die Werte sind nun nicht mehr identisch mit den Zwecken des Verstandes, die im Mythos vergöttert wurden, sondern sie erheben sich als Ideale über diese; im Mythos hat der Mensch sich selbst und die Welt vergöttert, wie ihm diese aus der Verstandessicht erscheint, in der Metaphysik der Vernunft vergöttert der Mensch sein eigenes Idealbild und das Wesen der Welt, wie es sich der Vernunft zeigt. Der erste Ausdruck für diese Bewegung ist die griechische Kunst, in der Menschentum und Idealität vereinigt erscheinen. Der zweite Schritt ist das alleinige Setzen auf die Innerlichkeit, hervorgerufen durch das Erleben der Leitungsübertragung an die Vernunft, die sich hier phylogenetisch als ganz neue Eigenlebendigkeit und Andersartigkeit gegenüber der Sehweise des Verstandes geltend macht. Im dadurch bedingten Absolutsetzen der Wesensschau der Vernunft sinkt über Platon, die Stoa, das Christentum und den Neuplatonismus die Vernunft (als Vermögen) vor dem summum bonum zusammen in der Hochreligion: das geschaute Absolutum Gott ist jenseits dieser Welt. Das klassische griechische Denken geht noch von einer diesseitigen Teilhabe am Absoluten aus, sei es als Anähnlichung in der Teilhabe an der Idee (Platon), sei es als Verwirklichung der "Form" als Entelechie (Aristoteles); auf Teilhabe-Stufen steigt der Mensch zu göttlicher Schau empor. Im Gegensatz dazu verwandelt sich im Durchbruch der Innerlichkeit als des Sich-Selbst-Bewußtwerdens der Vernunft, das sich im individuellen Durchbruch einem Überlegen-Überirdischen zu verdanken scheint, da sich der Mensch diesen Durchbruch nicht selbst zuzurechnen vermag, der Abstand zwischen summum bonum und Mensch in einen unendlichen: alles Diesseitige verhindert die Verbindung zwischen beiden, weil es sich auf die konzentrierende Liebe, die einzige und wahre Kommunikationsweise der Innerlichkeit mit Gott, störend auswirkt – auch hier setzt sich die Vernunft ausschließend, als begeisterte Innerlichkeit, wie sie sich später am Gegenpol bei Hegel als reines Vermögen ausschließlich setzen wird. Das Diesseits wird von einem solchen Standpunkt aus, der bereits in der Sophistik und bei Platon als privatio des Seienden angelegt ist, zwangsläufig als nichtswürdiger Schein abgewertet, welche Auffassung bei Buddha, Jesus und im Neuplatonismus für die Innerlichkeit schließlich zur herrschenden wird. Für die damit um ihren eigenen Wert gebrachte Welt bleibt nur das "Mitleid", weil aus dieser Sicht alles Seiende in der gleichen nichtswürdigen Situation steht. Der "wahre Wert" des Lebens wird in ein Außerhalb zu dieser Welt verlegt. Zwar wird auf diese Weise richtig gesehen, daß die Welt an sich keinen Wert hat; aber diese Entwertung des Seienden übersieht völlig die reale Konstitution des Seienden in seiner Diesseitigkeit: daß seine Kommunikation innerhalb des Seienden, als Welt, sich als wertgeprägte und wertauswickelnde konstituiert."

12 Die Begriffsschwierigkeit ist hier eine ganz ähnliche wie bei Kants Bestimmung von Transzendenz und "transzendental": Auch hier bereits ist das "Transzendentale" eine unüberschreitbare Grenze, jenseits derer das uneinsehbar Transzendente liegen soll: auch das Umgreifende meint einerseits ein Grenzen der menschlichen Einsehbarkeit, andererseits eine jenseitige GUW-Entität, aus der heraus der Mensch das Erweitern dieser Grenze und damit eine Verschiebung der Grenze des Umgreifenden erfährt; es wird mithin das bei Kant statisch gedachte Transzendentale dadurch dynamisiert. Vielleicht bevorzugt der Autor von TA24 aus diesem Grunde den Terminus von Jaspers, der insoweit als das "Bewegende" innerhalb seiner "Begriffsdynamik" gedacht wird?

13 Solange es Menschen gibt, wird es daher auch immer Aberglauben und die verschiedensten Religionsformen nebeneinander geben, da diese auf der individuellen Ausstattung der unterschiedlichen Individuen fußen und ihnen jeweils innerhalb ihres eigenen Rahmens die Existenz ermöglichen. Wir sehen dies etwa am Zulauf der Sekten, die nach der Auflösung der Hochreligionen massenweise entstehen: die subjektive Existenz steht der "objektiven Wahrheit" allemal voran, und dies durchaus auch bei Wissenschaftlern – immerhin 40 % der Physiker bezeichnen sich selbst als "gottgläubig".

14 So Prof. Dr. Wolf Singer, der renommierte Direktor des M.-Planck-Instituts für Hirnforschung in Spektrum der Wissenschaft Spezial 1/2000.

15 Ein Problem ist hier der sog. "psychophysische Identismus" bzw. "Monismus"; neuronale Aktivität und die darauf basierenden Vorstellungen sind sicherlich Eines im Sinne einer massiven parallelen und seriellen Verarbeitung, die in der Aktivität selbst die Vorstellungen bereitstellt. Andererseits teilen die Tiere, die über ein weithin völlig gleiches Gehirn wie der Mensch verfügen, dessen rationale Vorstellungen nicht. Vielmehr muß diese Fähigkeit durch das Hinzutreten weiterer Neuronenschichten im Neokortex bedingt sein, während der sonstige Gehirnaufbau weitgehend mit dem tierischen übereinstimmt. Das besagt, daß zur tierischen Interpretationsstruktur eine weitere und nachgeschaltete hinzutritt, die unser rationales Bewußtsein ermöglicht. Die neuronale Aktivität "an sich" (als elektrische und chemische Vorgänge – und noch viel weniger "Quantenvorgänge in den Mikrotubuli" [Penrose], die wir ja mit den Tieren teilen, ohne daß diese "Bewußtsein" hätten) ist so gesehen nicht "identisch" mit den Vorstellungen, vielmehr ist diese Aktivität selbst vielfach in sich vernetzt, und das eigentlich Bedeutsame ist die Wechselwirkung aus Aktivität und Vernetzung der verschiedenen Schichten sowie die sich daraus ergebende Beteiligung der jeweils überlagernden Interpretationszentren einschließlich des Gedächtnisabgleiches, so daß zuletzt eine Mischung aus aktueller Aktivität, dazu gespeicherter Neuronalmuster einschließlich von deren bekannter Bewertung als "Vorstellung" erscheint. Dann aber von "Identismus" zu sprechen erschiene ebenso als starker Reduktionismus, wie wenn man die chemischen Molekulareigenschaften direkt auf die atomaren Bausteine zurückführen wollte. Daß dies aber nicht gelingt, sondern vielmehr die chemischen zu den atomaren Eigenschaften emergent sind, läßt sich schon daraus abnehmen, daß wir auch heute noch nicht in der Lage sind, die chemischen Wirkungen von uns selbst zusammengestellter Moleküle vorauszusagen – die Industrie sieht sich hier vor dem berühmtem "Trial and Error", wenn sie neue Verbindungen etwa in der Medizin herzustellen versucht.
Ebenso besitzen neuronale Netzen gegenüber den sie bildenden Neuonen emergente Eigenschaften, und ganz ebenso besitzen wieder solche Großsysteme dritter Ordnung wie das Gehirn, das sich aus solchen neuronalen Netzen zusammensetzt, diesen gegenüber emergente Eigenschaften.

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