Deutsche Übersetzung zum englischen Originalartikel aus der Diskussion des Karl Jaspers Forums im Internet
(http://www.mcgill.ca/douglas/fdg/kjf/)
Original-Titel: KARL JASPERS FORUM TA24 Commentary (on Mullers Response 15 and v. Glasersfeld C22)
by Helmut Walther July 20 2000

KARL JASPERS FORUM TA24

Kommentar
(zu Mullers Antwort 15 und v. Glasersfeld Kommentar 22)
von Helmut Walther 20. Juli 2000, versandt 31. Juli 2000

Metaphysik gegen GUW (denkunabhängige Wirklichkeit)

ABSTRACT

<1> Zwischen den unterschiedlichen Standpunkten von Herbert Muller (HM) und mir – soviel scheint für beide Seiten klar – geht es nicht um richtig oder falsch, Recht oder Unrecht haben, sondern vielmehr darum: welche der hypothetischen Gesamtthorien ist "besser", "tragfähiger"? Sowohl HM als auch ich sind sich dabei der Hypothetik der jeweiligen Grund- und Einzelannahmen bewußt. Allerdings stellt sich damit sofort die Frage: besser, tragfähiger in welcher Hinsicht? Mein heutiger Kommentar geht daher einstweilen nicht konkret auf HM’s Antwort 15 sowie E. v. Glasersfeld’s C22 ein, sondern versucht eine grundsätzliche Erhellung der gegenseitigen Standpunkte.

Meine Überlegungen kommen zu dem Schluß, daß der Konstruktivismus und mit ihm wohl HM und E. v. Glasersfeld aus einer gleichen Ausgangslage (Subjektivität und Hypothetik) die umgekehrte Konsequenz im Hinblick auf die Einschätzung von Metaphysik bzw. geist- oder denkunabhängiger Wirklichkeit ziehen. wie ich selbst. Denn dort wird mit Vico ein von der Realität abgeschiedener Idealismus konstatiert ("verum est factum", 0D-Matrix), der genau dasjenige als einzige Realität setzt, was bislang (und auch bei mir) Metaphysik hieß.

<2> Woran kann man den Erkenntnisgewinn in einer durchwegs hypothetisch interpretierten Welt messen? Allein an der Tragfähigkeit der Erkenntnis im realen Wettstreit der Ideen, denn die Möglichkeit einer "objektiven" und allezeit gültigen "Wahrheit" wird wiederum von beiden Seiten ausgeschlossen (wenn auch nicht unbedingt mit den gleichen Gründen).

Ob man will oder nicht, setzt man damit jedoch die Existenz einer Realität voraus, die zuletzt über die bessere Tragfähigkeit in der realen Kommunikation des Seienden (zu dem ja auch die Menschen zählen) entscheidet. Zumindest das Vorhandensein einer Wirklichkeit (sic: in welcher Verschiedenes aufeinander wirkt) wird wohl auch von HM nicht bestritten werden.

<3> Bessere Tragfähigkeit von Verhaltensweisen bzw. Ideen und Theorien ist aber immer verbunden mit Information und deren "Passung" auf diese Realität. Ist dies doch der Grund, warum "zufällig" entstehende informationsverarbeitende Systeme wie das Genom und Sinneszellen und später hinzutretende "Repräsentanzsysteme" (informationsspeichernde Gehirne) sich in der Evolution zumindest zu behaupten, wenn nicht als "besser" durchzusetzen vermochten mit dem bislang letzten Ergebnis des menschlichen Geistes (was ohne jede Teleologie gemeint ist). Es liegt also in der Evolution selbst ein Trend, die Informationsverarbeitung von Lebewesen mit der jeweils vorliegenden Realität in einen funktionierenden Konnex zu bringen – alles andere wäre ja auch ganz sinnlos und nicht überlebensfähig.

<4> Hier setzt nun HM bei den verschiedenen Seinsstufen auch unterschiedliche 0D-Ansätze an, etwa bei Mensch und Tier, so, als ob sich jede Seinsart das ihr vorliegende Seiende in völlig neuer Art und Weise interpretativ anzueignen hätte – nur dies kann ja der Sinn der 0D-Matrix sein. Im Gegensatz dazu sagt mir meine (gewiß hypothetische) Schau auf die Welt (Phänomenologie) etwas ganz anderes: jede neue Seinstufe trägt mit und baut auf auf dem gesamten Vorbestand dessen, was sich Natur an informationsverarbeitendem Vorbestand erworben hat: wir tragen nach wie vor in jeder Zelle ein Genom, wir werden von einem Vegetativum "geregelt", wir handeln instinktiv und empfindend, und obendrein vermögen wir die Welt auch noch mittels Verstand und evtl. Vernunft zu interpretieren. Kein Mensch fängt mit einer 0D-Matrix an, sage ich, sondern bis er überhaupt erst aus dem Säuglingsalter zum Verstand kommt, ist genetisch und emotional konditionierend aus dem artgemäßen und individuellen Vorbestand bereits fast alles entschieden, was er in dieser Realität je werden kann, einschließlich seiner eigenen Reflexionsmöglichkeiten darüber – wo ist da eine 0D-Möglichkeit, mit der jedes Individuum quasi völlig aus dem Unstrukturierten ganz Neues und Eigenes aus sich zu machen vermöchte? Ich sehe in der gesamten Natur einschließlich des Menschen in der Hauptsache Wiederholungen – den Gegensatz zu einer 0D-Sehweise. Gerade die emotionalen und geistigen Vorprägungen jedes Individuums sind (aus evolutiv gutem Grunde) so stark, daß beide Vermögen bei den meisten Individuen lebenslang durch Konditionierung von außen vorstrukturiert sind und sie zu einer selbständigen Anwendung der Vernunft nicht gelangen. Eine 0D-Sicht muß im Gegensatz dazu notwendig von einer absoluten Selbständigkeit jedes Individuums ausgehen, da sonst keine Nullableitung stattfinden kann im je eigenen Aufbau der individuellen Weltstruktur.

<5> Selbstverständlich ist all dieses Reflektieren auf den eigenen Vorbestand des Menschen hypothetischer Natur – und insofern könnte man dies auch als Arbeitsmetaphysik bezeichnen; überhaupt deckt sich dieser letztere Begriff durchaus mit dem, was von mir als "zuzulassende", "richtige" Metaphysik der Vernunft bezeichnet wird im Gegensatz zu derjenigen Metaphysik, die, weil nicht im Zusammenhang mit der Realität stehend, ausgeschieden werden wird – wie ja auch alle lebenden Wesen einst "Hypothesen" der Natur selbst waren: Tragfähgkeit von Mutationen im Wege der Selektion zu erproben.

Die Differenzen zwischen HM und mir sind insbesondere folgende:

a) HM unterscheidet nicht wie ich zwischen Verstand und Vernunft, da für ihn alle denkenden Interpretationen mittels einer einheitlichen "Erfahrung" innerhalb einer 0D-Matrix erfolgen. Er unterscheidet mithin auch nicht Ding- und Wesenserkenntnis – vielmehr sind ihm beides gleichartige "Werkzeuge".

Damit kann er auf den eigentlichen phylogenetischen Entstehungsgrund von Metaphysik nicht aufmerksam werden, der bei Platon und Aristoteles, aber auch bei Buddha eindeutig, wenn auch in verschiedener Interpretation ausgesprochen ist: der Unterschied zwischen dem Scheinen des Verstandes und dem Sein der Vernunft, zwischen erster und zweiter Seinsweise; allein letzteres wurde bislang als Metaphysik aufgefaßt, und als solche etwa von der analytischen Philosophie bekämpft. Dieser gesamte, sich durch 2500 Jahre Philosophiegeschichte ziehende Streit zwischen den beiden Vermögen Verstand und Vernunft, welcher Interpretation denn der Vorzug gegeben werden solle, wird von HM und dem Konstruktivismus ganz einfach damit ausgeblendet, daß nunmehr alle menschliche Erfahrung als "metaphysisch" aufgefaßt wird, also nicht nur diejenige der Vernunft, sondern auch noch diejenige des Verstandes. Damit stellt sich eine solche Auffassung quer zu einer 2500-jährigen Genese der menschlichen Tradition – auch eine Art Abwendung von der Vernunft, wie sie in aller "Postmoderne" nach dem "Ende der Metaphysik" zum Ausdruck kommt.

b) Dieser Versuch, die Errichtung der Welt allein ins Innen des Menschen zu verlegen, ohne interpretierende Repräsentation von Außendingen – was ja von HM als die Annahme einer denkunabhängigen Realität (GUW) und damit als traditionelle Metaphysik angesehen wird – obwohl sich dabei der Metaphysik-Begriff nicht mit dem herkömmlichen Gebrauch deckt, wie gerade gesagt – , ist natürlich nicht ganz neu, sondern begegnet bereits im Solipsismus (Berkeley), in dem sich das subjektive Ich mit seinem Bewußtseinsinhalt für das einzige Seiende hält. Schopenhauer sagte übrigens zu einer solchen Auffassung, daß die Vertreter eines solchen radikalen Solipsismus ins Tollhaus gehörten (was ich mir damit natürlich keinesfalls zu eigen mache).

Mehr noch hierher zu rechnen scheinen mir die Auffassungen Fichtes und Nietzsches, wenn auch in unterschiedlicher Weise:

1. Auch bei J. G. Fichte setzt sich zunächst das Ich, und dieses Ich setzt alles andere von seiner "freien Subjektivität" aus als Nicht-Ich. Auch schon Fichte ist der Auffassung, daß das Bewußtsein einer dinglichen Welt außer uns absolut nichts weiter ist als das Produkt unseres eigenen Vorstellungsvermögens. Er gerät so in einen vollständigen Idealismus – und dies liegt insoweit auch für den Konstruktivismus nahe, weshalb ich verschiedentlich auf dessen Dualismusgefährdung aufmerksam gemacht habe.

2. "Denkt Feuerbach seine mit Leibniz als ‚Monaden‘ bezeichneten kleinsten beseelten Einheiten in der Weise, daß sie rezeptiv im ‚Auseinander‘ in einem direkten Kontakt mit der Wirklichkeit stehen, aus der reflexiv die Interpretation des Wirklichen einschließlich der Ich-Bildung hervorgeht, so sind diese kleinsten lebendigen Einheiten, ‚Willensatome‘ genannt, bei Nietzsche ‚fensterlos‘ als Ergebnis interner ‚Nerventhätigkeit‘: auch die sinnliche Rezeption ist für ihn bereits durch den ‚Machtkampf‘ der Willensatome bedingte subjektive Interpretation. Bei Feuerbach zeigen mithin die Sinne Wirklichkeit, bei Nietzsche ist alles ‚Erkennen‘ Illusion. Feuerbachs Ansatz ist ‚naiv‘, indem er eine weitere theoretische Rückführung der Empfindung von diesem Subsystem auf die ‚Monaden‘ ablehnt und die Empfindung für ‚ursprünglich‘ hält; Nietzsche hingegen denkt das Zustandekommen auch noch von Empfindungen und deren Bedingtheit auf die kleinsten Einheiten in einem Modell zurück."(1)

Auch für Nietzsche ist mithin im Gegensatz zu Feuerbach die Welt rein subjektives Vorstellungsprodukt ohne Verbindung zu einer Außenwelt.

c) Mir scheint dies nach wie vor der springende Punkt zu sein, denn die Annahme einer denk–unabhängigen Realität und deren konditionierende Wirkung auf das Individuum gehören ebenso zusammen wie deren vom Konstruktivismus und HM behaupteter Gegensatz der Fensterlosigkeit einer subjektiven individuellen 0D-Matrix mit dem Nichtbestand einer GUW.

Dabei besteht zunächst zwischen HM und mir darüber Einigkeit im Ausgangspunkt, daß alle Annahmen grundsätzlich vom Subjekt ausgehen und hypothetischer Natur sind. Der Widerspruch besteht darin, daß bei HM ein zur Deckung Bringen von hypothetischen Annahmen mit einer Realität allein schon deshalb gar nicht möglich sein kann, weil für ihn eine denkunabhängige Realität gar nicht besteht; hingegen gehe ich davon aus, daß eine, wenn auch in ihrer Vollständigkeit uneinsehbare Realität besteht, die sich aus "erstarrten Hypothesen" des Werdens zusammensetzt und als solches alles Werdende und damit auch alle Subjekte sowohl basiert als auch konditioniert ("Welthaftigkeit"). Diese letztere Annahme meinerseits wird von HM aber bereits als GUW abgelehnt, da sie nichts als subjektive Interpretation sei, welche seiner Meinung nach an eine nichtbestehende Realität nicht angenähert werden könne.

d) Zur Entscheidung in dieser Frage ist zunächst festzuhalten, daß beide Standpunkte von einer vollständig gleichen Ausgangslage starten – Subjekt und Hypothetik –, aber am Ausgangspunkt eine unterschiedliche Wahl treffen; es muß also darum gehen, welche Argumente jeweils dafür oder dagegen sprechen, sich für die eine oder andere Wahl zu entscheiden, wobei immer im Auge zu behalten ist, daß diese Wahl natürlich den Boden des Subjekts nicht verlassen kann; der Versuch, für solch eine Entscheidung angeblich objektive Argumente vorzutragen, scheitert notwendig, weil es an diesem Punkt noch keinerlei "Objektivität" geben kann, für welche der Seiten auch immer. Trotzdem gehen natürlich beide Seiten notwendig von einem Vorwissen aus und wählen Beispiele für die jeweilige Argumentation aus einer Realität, deren Denkunabhängigkeit nicht bewiesen ist. Doch läßt sich auch hier hypothetisch vorgehen, indem man jeweils einmal die eine und die andere Wahl als richtig unterstellt und auf ihre Konsequenzen prüft. Anders ausgedrückt: unter Anwendung der subjektiven empirischen Überprüfung von Ursache und Wirkung zu untersuchen, ob sich Wirkungen einer denkunabhängigen Realität beobachten lassen oder nicht. Damit verhalten wir uns genau wie von HM gefordert: wir unterstellen zunächst eine "Als-Ob-Realität" und versuchen, bestimmte Beobachtungen zu interpretieren.

e) Dann lehren uns aber die Naturwissenschaften und die Verhaltensforschung, ja sogar der Volksmund ("Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr"), daß ein adäquater Auf- und Ausbau jedes Gehirns, sei es Tier, sei es Mensch, um seine "normale Interpretationsfähigkeit" überhaupt erst zu erreichen, ganz grundsätzlich auf sensorische Kommunikation mit der Umwelt angewiesen ist. Die epigenetische Vernetzung des Gehirns mit seinen Interpretationszentren wird im "learning by doing" herbeigeführt, das heißt durch Training der Sinne im Konnex mit der Umwelt; fällt die Umwelt aus, ist auch die entsprechende Vernetzung gestört.

Dies gilt auf allen Feldern der epigenetischen Vernetzung von den Sinnesorganen über die Sprache bis hin zur sozialen Prägung. Immer ist für die Ausbildung des Individuums die Kommunikation mit der Umwelt Vorbedingung, das "Ich" ist nur über das "Du" möglich.

Weder der "Leib" noch der "Geist" des Individuums bilden sich mithin in und aus einer unstrukturierten 0D-Matrix; Genom und Hoxgene sind selbst strukturbildende Strukturen, ohne deren regelgerechte Funktion eine Ausbildung von Leib und Geist fehlschlägt, und dies nicht nur "als-ob", sondern (leider) oft ganz real. Und erst eine epigenetisch-kulturelle Koevolution sowie soziale Prägung machen ein Individuum in seiner spezifischen Umwelt lebensfähig – das Kind lernt nicht aus innerer Erfahrung innerhalb einer unstrukturierten Matrix, was so heiß ist, daß es sich daran verbrennt, sondern durch den Schmerz aus der Berührung von heißen Gegenständen im Außen.

Überhaupt ist alle Entstehung von Sinnesorganen und der darauf aufbauenden Interpretation (etwa auch jene der 0D-Matrix) nur denkbar in der Weise, daß eine reale gegenseitige Affizierung von jeweils für sich abgegrenzten "Außendingen" stattfindet – die gesamte Ausdifferenzierung der Natur und ihre Kommunikation auch über die Artengrenzen hinweg (etwa zwischen Pflanzen und Insekten) ist ohne diese gegenseitige reale "Prägung" nicht vorstellbar. Blütenformen und Bienentanz wie die unterschiedliche Hautfarbe der Menschen sind alles Anpassungsergebnisse an und innerhalb einer real wirkenden Umwelt, ganz unabhängig davon, ob und wie heutige Menschen dies interpretieren.

f) Der Punkt, wo die Auffassungen von HM (wie des Konstruktivismus) und die meinige sich trennen, ist, daß die Akzeption der Hypothetik der Interpretationen des menschlichen Denkens zu konträren Schlüssen führt:

– Diese Hypothetik mutiert beim Konstruktivismus in eine absolute Unerkennbarkeit der Welt (womit sich der menschliche Geist gleichzeitig absolut setzt und unverbunden neben die Welt stellt – Dualismus/Idealismus/Subjektivismus, und vor allem Relativismus) unter Ablehnung einer denkunabhängigen Realität.

– Hingegen schließt für mich die sicherlich unaufhebbare Hypothetik unserer Interpretationen eine asymptotische Annäherung an die wirkliche und wirkende Verfaßtheit der Realität nicht aus, die auch ganz unabhängig vom Menschen in ihren verschiedenen, den Menschen selbst mitbegründenden Seinsstufen existiert.(2)

Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn die Wissenschaft etwa Molekularstrukturen herausfindet, werden HM und ich zu unterschiedlichen Aussagen darüber gelangen:

Der Konstruktivismus und mit ihm HM wird hier von "als-ob-Strukturen" sprechen, die ausschließlich in unserer Erfahrung existieren, aufbauend auf unsere geistigen (und im Sinne Vicos "wahren" Hilfsmittel wie Zahlen und Theorien zurückgehenden) "Werkzeuge", und keinerlei denkunabhängige Wirklichkeit (GUW) besitzen.

Hingegen ist meine Meinung, daß es sich bei der Entdeckung von Molekularstrukturen und deren verschiedener chemischer Eigenschaften um die Aufdeckung und Interpretation real vorhandener Strukturen handelt; hierbei kann durch Verbesserung der Forschungs- und Interpretationsmethoden eine zunehmende Annäherung zwischen realer Struktur und geistiger Interpretation erreicht werden, ohne daß allerdings die Hypothetik und Vorläufigkeit jeder Theorie je aufgehoben werden könnte, da wir nicht wissen können, was sich bei einer weiteren Entwicklung von Forschungsmethoden und Interpretation in Zukunft ergeben wird. (Im übrigen ist es in vielen Fällen so, daß wir für auftretende Phänomene, etwa das der Elektrizität, zunächst keinerlei Theorie parat haben, sondern erst die Phänomene uns zur Theoriebildung zwingen. Es sind reale Außenwirkungen, die sich unserer Wahrnehmung zunächst unverstanden aufdrängen – solche unverstandenen Wahrnehmungen dürfte es aber innerhalb des Konstruktivismus überhaupt nicht geben, da dort nur solches gedacht werden kann, was durch Hilfsmittel "innerhalb angehender Erfahrung im Unstrukturierten" interpretierbar ist. Zuletzt läßt sich die Diskussion auch darauf zurückführen: was ist zuerst da – der Außenreiz oder die Interpretation? Meine Antwort ist hier klar, und die des Konstruktivismus auch.

Sieht HM das menschliche Denken von den Außendingen und ihren Strukturen abgeschnitten – da solche für ihn ja denkunabhängig gar nicht existieren –, sehe ich eine Interaktion zwischen Außen und Mensch: bei mir ist alles Seiende Kommunikation und die Vernunft ein interpretierendes und schaffendes Hilfsmittel dazu (neben anderen, die diese Vernunft gleichzeitig basieren), bei HM gibt es nur 0D-Interpretation jeder Seinsstufe ohne die Möglichkeit realer Existenz und Kommunikation. Menschen untereinander und Dinge verkehren in letzterem Falle nur "als-ob", auch ethisch gesehen eine gefährliche Anschauung. Dies um so mehr, als dadurch auch die einzige Entscheidungsmöglichkeit, die der "Tragfähigkeit", ja selbst in einer solchen Theorie nur ein "als ob" sein kann, die durch jeden anderen "0D-Interpretations-Schritt" eines individuellen Subjekts einfach ausgehebelt zu werden vermag. Unterliegt doch auch dies Kriterium dem Subjekt, etwa einem Subjekt namens Hitler, der unter Verweigerung aller von seiner Subjektivität unabhängigen Realität dann sehr wohl behaupten kann, daß er eine ganz neue "Tragfähigkeit" entdeckt habe, etwa "Blut, Boden und Rasse". Unter der Annahme des Konstruktivismus gibt es dann aber keine andere Möglichkeit, als dies in einer "als-ob-Realität" auszutesten, statt eine solche Perversion unter Verweis auf real existierende Menschen (die mehr sind als "als-ob-Menschen") und deren Werte (die mehr als eine "als-ob-Gültigkeit" haben) zurückzuweisen.

<6> Eine weitere Frage ist, wie im Konstruktivismus, also auf Basis einer nicht existierenden realen Welt und einer Arbeitsmetaphysik Voraussagen über jene "reale Welt" getroffen werden können sollen, wenn diese gar nicht existiert. Auf vielen Gebieten der Naturwissenschaften sind Voraussagen in zweierlei Weise möglich: entweder, daß auf Grund einer Theorie die Existenz bestimmter Teilchen oder Bindeglieder oder gar Planeten postuliert und durch Forschung bestätigt wird; und zweitens, daß aus bestimmten Bedingungen ein vorhersagbares Ereignis folgen werde. In einer "als-ob-Welt", die real nicht existiert, und mit "als-ob-Methoden", die völlig unabhängig von irgendeiner Realität gebildet wurden, allein von "Menschengemachtem" ausgehend, könnten solche Vorhersagen nur völlig zufällig eintreffen. Unter der Voraussetzung des Konstruktivismus könnte man nicht einmal vorhersagen, ob am nächsten Tag die Sonne aufgeht; vielmehr existiert diese dort ja weder denkunabhängig, noch kann unsere "Arbeitsmetaphysik" der Sonne über diese etwas Wirkliches aussagen. Das sind seit Tausenden von Jahren von je 365 Tagen verdammt viele Zufallstreffer ...

<7> Noch ein Wort zum berühmten "Ding an sich" Kants, das nur auf dem Hintergrund einer metaphysischen Ontologie soviel Mißverstand auslösen kann (und bei Kant denn auch noch durfte ...) – was bei einer Abkehr von jeglicher unzulässigen Metaphysik heute aber keinesfalls mehr nötig ist. Ich darf mich hier in einer älteren Zusammenfassung selbst zitieren und verlege dies aus Platzgründen in die Fußnoten.(3)

<8> Es stellt sich also die Frage, ob es sich bei dieser Entscheidung in die eine oder andere Richtung (denkunabhängige Wirklichkeit ja/nein) um eine "freistehende und existentielle" oder um eine "denknotwendige" handelt. Denknotwendig und in diesem Sinne "wahr" sind nach Vico nur von Menschen geschaffene Phänomene; diese könnten wir verstehen, weil wir sie in der Phantasie nachvollziehen könnten und Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt wesentlich verwandt seien. Dazu zählen nach (TA24 [60]) neben Zahlen und geometrischen Gebilden insbesondere auch Theorien. Innerhalb des Konstruktivismus können damit allerdings wohl nur solche "Theorien" angesprochen sein, die sich auf rein logischem Gebiet "innerhalb des menschlichen Geistes" bewegen, da alles Äußere, nicht Menschengemachte (wie etwa die gesamte Natur) ja gerade unerkennbar und damit auch eine Theorie darüber keinesfalls "wahr" sein kann.(4) In Wirklichkeit gesteht Vico mit einer solchen Argumentation nur den logischen Schlüssen der Vernunft Wahrheit zu, hingegen verwirft er damit die Empirie des Verstandes – dies ist eine überdeutliche Parallele zu Platon und Aristoteles, ein Idealismus, der noch dazu in bester Platonischer Tradition den Verstand von der Vernunft abtrennt, die Aristoteles in der ersten und zweiten Seinsweise noch zu verbinden wußte.

Mithin, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr stellt sich sowohl die Auffassung Vicos wie auch die des Konstruktivismus als ein versteckter Idealismus der Vernunft heraus, wie ich dies in meinen bisherigen Stellungnahmen eher nur anzudeuten wußte.

<9> Daher noch einmal zu den Unterschieden: Was zunächst bei einer recht gleichen Ausgangslage zwischen HM und mir wie eine nahe beieinander liegende Position aussah (Subjektivität und Hypothetik der "Wahrheit"), erwies sich als ins Entgegengesetzte auseinanderlaufend, auf Grund der daraus gezogenen divergierenden Konsequenzen.

Der Hauptunterschied liegt darin, was jeweils als "Metaphysik" aufgefaßt wird. Persönlich gehe ich vom hergebrachten Aristotelischen Begriff aus und identifiziere daher damit zunächst alle Hervorbringungen der Vernunft als "logos", "nous". Vom Konstruktivismus und wohl auch HM wird dieses Verhältnis nun mit Hilfe Vicos genau umgekehrt: "verum factum est" bedeutet in diesem Zusammenhang, daß gerade jene metaphysischen Feststellungen der Vernunft ("menschengemachte", also rein logische "Feststellungen" wie Dreiecke, Bilder, logische Theorien", die bei mir die Metaphysik ausmachen), denen schon bei Platon als "Ideen" das "wahre Sein" zugemessen wird, nun das allein Wahre sein sollen. Hingegen wird im Konstruktivismus der "ersten Seinsweise" des Aristoteles, dem "Seienden" des Platon, modern gesprochen dem Empirischen des Verstandes ganz wie bei Platon die Realität abgesprochen ("privatio des Seienden"), eine denkunabhängige Realität soll es nicht mehr geben, was gleichzeitig heißt, daß Realität nur dem Denken der Vernunft selbst zukommt. Kein Wunder, daß sich HM und ich unter diesen Umständen jeweils gegenseitig dem Metaphysik-Verdacht aussetzen mußten ...

<10> Was heißt das für die unter <8> angesprochene Frage? Nun, es wird hier keine denknotwendige Entscheidung geben, vielmehr gibt die von mir vertretene Auffassung darauf eine Antwort, welche die Möglichkeit des Konstruktivismus enthält, wohingegen der Konstruktivismus meine Auffassung notwendig ausschließen muß – also eine Theorie negieren muß, die umgekehrt ihn selbst als mögliche Sehweise im Hegelschen Mehrfachsinne aufhebt.

Der Konstruktivismus sieht die Ausgangslage des Subjekts und seiner Hypothetik korrekt, und HM will diese Ausgangslage mit einer Begriffsdynamik verbinden, die weitere Erfahrung ermöglichen soll, was mir zunächst sehr sympathisch und meinen eigenen Auffassungen entgegenkommend erschien, weshalb ich diese doppelte Dynamik der Begriffstranszendenz und des Erfahrungsumgriffs mit Rezeption und Reflexion zu verbinden suchte.

Rezeption und Reflexion von Vermögen wie Emotio, Verstand und Vernunft sind von mir aber nicht allein "arbeitsmetaphysisch" gemeint, sondern diese Begriffe sollen gleichzeitig auf eine reale neuronale Grundlage und deren Verbindung mit der Außenwelt verweisen, und dies muß vom Konstruktivismus natürlich abgelehnt werden, der von einem menschlichen Geist ausgeht, der "rein aus sich selbst" tätig wird ("verum est factum") und nach HM’s Vorschlag die Wirklichkeit allein mit seinen Begriffen formt, die er einer 0D-Matrix und nicht der sensorisch und emotional fundierten Kommunikation entnimmt.

Insofern ist der Konstruktivismus für meine Theorie eine Weiterführung der Vernunftreflexion in der Doppelreflexion ihrer selbst, wobei sie sich jedoch selbst ebenso wie im Idealismus nicht loszulassen vermag, sondern sich nach wie vor als ausschließend setzt.(5) Sie verwirft die Realität ihrer Vorvermögen, wie sie selbst nicht sehen kann, anstatt deren Hypothetik wie die eigene zu konstatieren. Vielmehr verlegt sie die Dynamik der Entwicklung nach wie vor allein in die Vernunft hinein, die aus einer reinen "Begriffsdynamik" innerhalb ihrer selbst, abgeschieden von jeglicher nichtexistierender denkunabhängiger Realität aus einer 0D-Matrix das jeweils Neue entbergen soll. Ganz anders die von mir vertretene Theorie, die mit dem "Ende der Metaphysik" auch vom "Ende der Vernunft" ausgeht (und sie damit "losläßt", jedenfalls als schaffendes und wertendes Zentrum, nicht jedoch dasjenige, was sie in korrekter Weise an Sicht und Wert geschaffen hat, das damit in den Traditionsbestand eingegangen ist – daher die Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Metaphysik); hier wird nicht einer weiteren Übersteigerung der Vernunft ihrer selbst und innerhalb ihrer selbst das Wort geredet, wie es schon Spinoza tat in seiner Abstraktion auf das "Wesen des Wesens"), sondern spekulativ danach Ausschau gehalten, was in der Realität des Seienden darauf schließen läßt, ob, womit und wie eine neuerliche Rezeption über die Vernunft hinaus zu sehen ist, die selbstverständlich sämtliche Sehweisen der Vorvermögen und damit auch den Konstruktivismus ein- und nicht ausschließt.

Anmerkungen:

1) s. meinen Rezension "Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit – Feuerbach und Nietzsche", im Internet einsehbar unter http://home.t-online.de/home/HelmutWalther/n_f.htm

2) Um dafür ein Beispiel aus vom Menschen "selbstgemachten" Dingen zu wählen (Vico: "verum et factum convertuntur"): Bei der Berechnung der Kreisfläche verwenden wir die Zahl Pi, deren Wert sich aus einer solch asymptotischen Annäherung ergibt, mit der wir uns durchaus zufrieden geben, weil eine solche Annäherung für eine "tragfähige Verwendung" in der Realität vollauf genügt. Hingegen zeigt ein anderes Beispiel, wie gefährlich die Verwendung der Null (etwa auch als 0D) ist, da sich mit ihr alles anstellen läßt:
Es gelte: a=b=1; dann gilt: a2 - b2 = a2 - ab è (a+b) (a-b) = a (a-b) è a+b = a è b = 0 è 1 = 0

Insofern mutet die Haltung des Konstruktivismus ganz ähnlich an wie die griechische gegenüber dem alten Paradox, daß Achilles bei jeweils gleichzeitiger Streckenhälftung die Schildkröte niemals erreichen kann: es ist eine auf sich selbst beharrende Vernunft, die sich hinter der Unaufhebbarkeit ihrer eigenen Hypothetik versteckt, um in der Verweigerung ihres Realitätskonnexes ihre Eigenheit zu retten: Dualismus und Idealismus – anstatt beherzt die Schildkröte zu greifen. Die Vernunft setzt damit ihre theoretische Möglichkeit höher an als das praktische Handeln, zu dem sie zuletzt da ist; im Gegenteil wird sie unnütz, wenn sie die gehörige und realitätsbezogene Verbindung mit ihrem eigenen Verstand verweigert, dem es ein leichtes ist, die Schildkröte zu erreichen. Die Mathematiker wissen, daß sie im Umgang mit der Null und dem Unendlichen vorsichtig sein müssen, weshalb die Division durch 0 ausgeschlossen ist. Umgekehrt sind es in mancher Philosophie und in den sogenannten "Hochreligionen" gerade das Nichts und das Unendliche = das "Absolute", die den letzten Rückzugswinkel einer auf sich selbst beharrenden und damit immer noch dualistisch-idealistischen Vernunft bilden.

3) "Mit Kant fiele die "wahre Wirklichkeit" eines Seienden mit seiner Bestimmung als "Ding an sich" zusammen, welche Einsichtsfähigkeit allerdings einem solch individualisierten Teilbewußtsein wie dem des Menschen mitsamt seiner Apriorität von Raum und Zeit abginge. Die "wahre Wirklichkeit" ist hier nur einem Gotte zugänglich, wohingegen alle geschaffenen Wesen, deren Erschaffen per se ipsum Begrenzung bedeutet, Erscheinungen seien und es ausschließlich mit Erscheinungen zu tun hätten. Doch tut man mit einer solchen Optik unserem so geschmähten Teilbewußtsein Unrecht (und dies mit ebendemselben): denn sowohl die Wirklichkeit als synthetische Vorstellung wie auch als wirkende Realität wird erst durch das jeweilige Bewußtsein in der Reihe des Seienden hinauf bis zum Menschen hergestellt. Ohne die "Offenheiten", Reaktionsmöglichkeiten des Seienden und deren Reflexion wäre diese Wirklichkeit, wie wir sie antreffen und in ihrer Erscheinung reflektieren, gar nicht vorhanden: Wirklichkeit und Erscheinung gehen völlig identisch ineinander auf! Ein "Ding an sich" kann es gar nicht geben, weil ein Ding, sei es anorganisch, organisch oder mit Bewußtsein ausgestattet (als Instinkt, Emotio oder Ratio) immer genau so viel "Ding" ist, und genau das als "Ding" ist, in welcher Weise es mit dem, was um es herum ist, in Beziehung steht. Eine Ge- oder Beschaffenheit, die über diesen Bezug zum Seienden hinausgeht, hat kein Ding, auch nicht das "Ding an sich". Wozu sollte dieses unerkennbare "Mehr-Sein" eines Dinges an sich, das sich jedem wirksamen und damit sichtbar werdenden Bezug entzieht, auch gut sein? Hinter dieser fehlerhaften und statischen Perspektive verbirgt sich der verdünnte Rest des abendländisch-christlichen Weltbildes und dessen Anthropozentrismus, mithin ein Glaube: es ist die menschliche Ratio, die dem "Gott" als letzten Rückzugswinkel das "absolute Bewußtsein" zuweist, indem sie in negativer Analogie von der Erkenntnis der Ausschnitthaftigkeit des eigenen Bewußtseins auf ein "vollkommenes Gesamtbewußtsein" schließt. Insoweit ist Kant noch nicht der entscheidende Wechsel in der Perspektive von der Statik zur Dynamik gelungen. Die Zunahme der Vollkommenheit des Bewußtseins liegt nicht "irgendwo" und prästabiliert vor oder über den "Dingen" und deren Erscheinung, sondern das jeweilige Teilbewußtsein an der Phylogenesespitze ist das in der jeweiligen Momentaufnahme erreichte Maximum an Bewußtsein, vor und unterhalb dessen immer nur ein Weniger an Bewußtsein im Bezug des Seienden untereinander als bestehende Wirklichkeit gegeben war und ist. Dies gilt insbesondere für den Menschen, der sich ebenfalls als Erscheinung und als "Ding an sich" betrachten lassen muß, was Kant mit dem intellegiblen Charakter und der empirischen Erscheinung dieses Charakters des Menschen zu leisten versucht. Doch auch hier waltet noch die Statik eines als Potenz vorgegebenen Charakters, dessen "Freiheit" in den Möglichkeiten der Anlage liegen soll, der sich als empirische Erscheinung durch die Notwendigkeit des Reagierens zwangsläufig als in Ort und Zeit gestellter und dadurch soseiender differenziere. So daß man, wenn man nur alle jeweils wirkenden Motive kennen würde, bei Menschen geradeso wie beim Tier und der Pflanze jedwede Handlung mit 100%-iger Treffsicherheit voraussagen könne, da das empirische Handeln nicht frei, sondern notwendig erfolge – wohingegen Freiheit nur in der "Intellegibilität" gegeben sei. Mithin erfahre sich nicht einmal der jeweils Einzelne in sich als "Ding an sich", sondern auch noch von sich selbst bekomme er nur soviel zu wissen, als durch die Empirie der Erfahrung, also durch eigenes Handeln auf durch die Umwelt vorgegebene Motive hin von der eigenen "Intellegibilität" ans Tageslicht gezogen werde, in die Erscheinung trete. Demnach wird auch hier als zugrundeliegend gedacht ein "Mehr-Sein" an Möglichkeit ("Freiheit"), die prästabiliert über dem "Typus Mensch" aufgehängt sei, wo die Sache genau umgekehrt liegt: alles, was diese Spezies zu werden vermochte und vielleicht noch zu werden vermag, ist durchaus nicht in einer Art Potenz vorgegeben, sondern muß durch Einzelne erobert und geschaffen werden. Es gibt in den Individuen keinen Wechsel auf die Zukunft, daß entsprechende Umstände ein "Mehr" des intellegiblen Charakters hervorzuziehen vermöchten. Vielmehr handelt es sich, wenn es denn einem Individuum gegeben ist, den bestehenden Wirklichkeiten des Typus eine neue hinzuzufügen, um eine Offenbarung/Innovation in der Erscheinung, welche das teilhafte Bewußtsein des Lebens von Welt wiederum um ein Stückchen erweitert. Hier ließe sich in jeweils umgekehrter Weise das Bild vom Trichter bemühen: Wo Kant und Schopenhauer die Intellegibilität in der Weise sehen, daß sie als im breiten Füllstutzen eines Trichters ausgegossen zu denken sei, aus welchem durch die verengende Empirie der Erfahrung aus dem schmalen Ausguß das reale Individuum in die Erscheinung trete; da wird hier die Auffassung vertreten, daß das Individuum von der Engstelle in die Breite des Trichters falle, wo es denn je nach Kraft um sich greift, einen Halt in den sich erweiternden, bisher ausgegossenen Möglichkeiten sucht, oder gar den Innenraum des Trichters verläßt, und eben damit den Trichter selbst vergrößert. Diesem Bilde vom "Fallen" ins Unbekannte entspricht wohl jene psychologische Beobachtung, die jedes reflektierende Bewußtsein an sich selbst anstellen wird: daß man sich selbst, das eigene Ich als zu suchendes erlebt, und eben nicht als ein quasi automatisches Selbstwerden. Letzteres dürfte "nur" für die "Wiederholungen" gelten, also all jene Menschen, die in ihrer Ontogenese die Konditionierungen der Tradition nicht überschreiten. Wenn denn überhaupt das Wort vom "Ding an sich" einen Sinn haben sollte, dann hier: nur eine solche Offenbarung des Neuen verdiente diesen Namen, und deshalb verknüpfen sich mit den Namen solcher Offenbarenden Wendungen des Geistes als neue geschichtliche Epochen. Andererseits füllt die Vielzahl der Normalindividuen den Trichterraum als Wiederholungen von ehemals ans Licht gezogenen "Dingen an sich" und bildet so den Traditionsbestand. Beides, das "Ding an sich" wie das Vorurteil zugunsten der Wirklichkeit treffen es nicht, sondern sind jeweils Extrem-Positionen:

a) daß Teilindividualisierung in Raum und Zeit, worunter alles "Geschaffene" und damit auch der Mensch fällt, "wahre Wirklichkeit" nicht zu erfassen in der Lage ist.

b) beziehungsweise im Gegensatz dazu, daß Wirklichkeit nur dasjenige genannt werden könne, was sich als Eintritt eines Ereignens "materialisiere", dessen Notwendigkeit sich aus der Tatsache der Wirkung des betreffenden Ereignens ergebe ("Was wird, ist vernünftig").

Stellt erstere Position auf die Objektivität des Beobachters ab, welche als nicht erreichbar erkannt und mit dem Absoluten identifiziert wird, so geht im Gegensatz dazu die zweite Position von einer "Absolutheit des Subjektiven" aus, indem nur das der Wirklichkeit zugerechnet wird, was das Subjekt auch wirklich betrifft. Nach Standpunkt a) erhält man eine für alles Seiende gleiche, jedoch unerkennbare Wirklichkeit, nach b) unzählige verschiedene Wirklichkeiten, welche durch objektive und subjektive Begrenzungen desjenigen Seienden, von dem aus die jeweilige Wirklichkeit bestimmt wird, geschieden werden. Die Wahrheit wird wie immer nicht bei den Extremen zu finden sein (jedoch auch nicht in der Mitte – wo sie nur selten anzutreffen ist, dort vergoldet sich meist nur das Mittelmaß selbst): "unwirklicher" ist jedenfalls die objektiv-absolute Position, denn was gehen "Geschaffenheiten" jene "Dinge an sich" an, die sie nicht betreffen und nie betreffen können? Vielmehr gleicht das "Ding an sich" einer Fata morgana, die einer idealisierenden Phantasie und deren statischem Verabsolutieren der eigenen menschlichen Fähigkeiten entspringt, sich jedoch, je näher man ihr zu kommen sucht, ins Ungreifbare auflöst – Schicksal aller Phantasieprodukte. Die Welt als "geschaffene" ist vielmehr eine Welt der Subjekte: hinter denen keine "Ideen" stehen, sondern die immer und geradesoviel "wirklich" sind, als sie an Erscheinung in die Welt bringen und soweit sie in ihrer Erscheinung angetroffen und damit betroffen werden. Diese Welt der Subjekte ist jedoch nicht statisch, sondern sie schafft an ihrer Phylogenesespitze ständig neue Wirklichkeiten, mit und durch welche der Umkreis des Geschaffenen sich ständig erweitert und weiter erstreckt – auch noch die Wirklichkeit selbst ist mithin kein statischer Begriff, sondern neben ihrer Subjektivität auch noch einer Dynamik in der Weise unterworfen, daß eine endgültige Bestimmung dessen, was Wirklichkeit sei, gar nicht möglich ist, insofern die Wirklichkeit als das "Sein des Seienden" solange nicht festgestellt ist, solange das Drängen des Lebendigen an der Phylogenesespitze nicht festgestellt ist, sondern fort und fort neue Wirklichkeit zeugt." (aus: KdI)

4) Es soll damit ja wohl kaum die "Wahrheit" etwa der Evolutionstheorie ausgesagt werden, so weit würde selbst ein reduktionistischer Wissenschaftler nicht gehen. Andererseits glaubt sich Vico offenbar berechtigt, in diesem Sinne die menschliche Geschichte als menschengemacht ("factum") zu begreifen und leitet daraus seine zyklische Gesellschaftstheorie ab, die noch einen Oswald Spengler beeinflußte. Was beweist, daß in dieser Auffassung selbst noch große Probleme lauern, da die Bestimmung des "Menschengemachten" nicht so einfach ist, wie es sich Vico offenbar vorstellt – womit zugleich denn das von HM häufig zitierte "verum est factum" fraglich wird.

5) Bei Fichte tut Vernunft dies ebenso, wohingegen Nietzsche sich selbst bei aller Psychologie nur ungenügend durchschaut und der "Rache der Vernunft" anheimfällt, wenn er sie auf der einen Seite vehement verleugnet, etwa in der Ablehnung von Sokrates, Platon und Aristoteles u.v.a., gleichzeitig aber sein "sinnliches System" mit nichts anderem als eben dieser Vernunft aufstellt, die er meint, soeben ausgeschlossen zu haben ...

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